Forschungsprofil des Lehrbereichs

Der Zeitraum von etwa 1450 bis 1800 erscheint in vielem anders als unsere Gegenwart. Manches an ihm wirkt aber auch vertraut. Diese Zwiespältigkeit spiegelt sich in dem Begriff, mit dem wir diese Epoche bezeichnen: „Frühe Neuzeit“ drückt zum einen aus, dass diese Zeit uns etwas angeht, weil wir immer noch in der Neuzeit leben. Zum anderen weist die Einschränkung „früh“ darauf hin, dass diese Zeit sich erheblich von der Unsrigen unterschied.

Allerdings ist dieses Schillern zwischen Fremdheit und Vertrautheit keine Eigenschaft der Frühen Neuzeit selbst. Vielmehr ergibt es sich aus der Doppelbewegung, mit der wir Historikerinnen und Historiker an alle Epochen herangehen. Stets fragen wir, was uns betrifft, weil es weiterhin gegenwärtig ist, aber nur begriffen werden kann, indem wir es aus seiner eigenen Zeit erklären.

Gegenwärtig aus der Frühen Neuzeit sind zunächst alle Überreste, die wir zu Quellen machen: Bücher, Bilder, Bauten, Karten, Flugblätter, Inschriften, Kleidung, Lieder – die Innovationen der Frühen Neuzeit haben sich in einer reichhaltigen Überlieferung niedergeschlagen. Von der Materialität dieser anfangs oft sperrig erscheinenden Quellen geht unsere Arbeit aus. Indem wir uns sinnlich damit auseinandersetzen, bringen wir Unmittelbarkeit und Fremdheit in eine produktive Spannung. So kann gerade das Befremden zum Antrieb der Forschung werden. Um möglichst dicht an die ursprünglichen Quellenzeugen heranzukommen, nutzen wir die vielfältigen Möglichkeiten der Digitalisierung. Regelmäßig erweist sich im Laufe der Forschungen dann, wie vermittelt unsere Wahrnehmung ist und wie verformt die Quellenzeugen sind. Das führt zur Überlieferungs- und Quellenkritik, auch und gerade von digital aufbereiteten Spuren der Frühen Neuzeit.

Wir haben ein Untersuchungsverfahren entwickelt, das aufschließt, welche Bedeutung in der materialen Gestalt der Quellen steckt und wie diese Bedeutung sich durch die Überlieferung verändert. Auf dieser Grundlage rekonstruieren wir die Sinn- und Wirkungszusammenhänge, in die unsere Quellen eingebettet waren. Abschließend klären wir stets die Frage, was die gewonnenen Befunde über die Frühe Neuzeit besagen und inwiefern diese Ergebnisse für uns von Belang sind. Das heißt, wir machen uns die Gegenwärtigkeit der frühneuzeitlichen Hervorbringungen auch auf der Bedeutungsebene klar.

Neben der intensiven Quellenarbeit steht in der Paderborner Frühneuzeitgeschichte die Begriffsarbeit im Mittelpunkt: die kritische Auseinandersetzung mit neuen und alten Forschungsbegriffen, Erkenntnisinteressen, Fragestellungen und Theorien. Dabei gelten die gleichen Prinzipien der Autopsie und Historisierung wie bei der Quellenarbeit. Denn auch die aktuellen Begriffe und Debatten lassen sich in sinnliche Erfahrungen mit Texten verwandeln, um sie anschließend auf geschichtstheoretische und historiographische Problemgeschichten zu beziehen.

Den Rahmen für die Paderborner Forschungen zur Frühen Neuzeit bildet die europäische Geschichte. Sie wird als Verflechtungsgeschichte in den Blick genommen: sowohl der europäischen Mächte untereinander, als auch in ihrem Wettlauf, außereuropäische Länder über Kontaktzonen wie dem Mittelmeer oder dem Atlantik in die eigenen Anliegen zu verwickeln. Ungeplant ergaben sich aus dieser Mächtekonkurrenz mehrere Fundamentalvorgänge, die unsere Geschichte bis heute bestimmen: die Staatsbildung; die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft; die Verwandlung von Religion in ein personales Bekenntnis und die Institutionalisierung von religiöser Pluralität; die Expansion der Bildung; die Rechtfertigung des Strebens nach persönlichem Glück; der Kapitalismus; die Globalisierung …

Vor diesem Hintergrund gelten unsere Forschungsinteressen der Gestaltung dieser Vorgänge in der politischen Kommunikation und der baulichen Formung des öffentlichen Raums; ihrer Reflexion im politischen Denken; ihrer Darstellung in der Geschichtsschreibung. Geschichtstheoretisch arbeiten wir an der Reflexion unserer Methode im Spannungsfeld von Sinnlichkeit und Digitalisierung sowie an einer Theorie des Ereignisses.

Laufende Projekte

Rieke Becker

Betreuer: Prof. Dr. Johannes Süßmann

Das Dissertationsprojekt befasst sich mit der vormundschaftlichen Regentschaft der Fürstin Christine Charlotte in Ostfriesland in den Jahren 1665 bis 1690. Diese war von innenpolitischen Konflikten geprägt, die mit äußeren Konflikten und Interessen verwoben waren. Während die Regentin sich selbst als Landesherrin und Ostfriesland als Fürstenherrschaft verstand, sahen die Landstände sich als frei und Ostfriesland als Ständeherrschaft an. In den daraus resultierenden Konflikten spielte die Einflussnahme auswärtiger Mächte eine entscheidende Rolle. Ohne Unterstützung von außen konnten sich weder Christine Charlotte noch die Stände innenpolitisch behaupten. Diplomatie war daher ein zentrales Mittel, um die Herrschaftsambitionen der Regentin voranzutreiben. In einigen Phasen sicherte Diplomatie sogar ihr politisches Überleben.

Das Dissertationsprojekt untersucht die diplomatischen Strategien, die gegenüber unterschiedlichen Akteuren eingesetzt wurden. Grundlage ist der Diplomatiebegriff der neueren Diplomatiegeschichte. Damit werden nicht nur die offiziellen Aktivitäten von offiziellen Gesandten, sondern auch andere Akteure sowie informelle und inoffizielle Praktiken berücksichtigt. Zentrale Fragen lauten: Auf welche Weisen versuchte Christine Charlotte, auswärtige Mächte davon zu überzeugen, sie zu unterstützen und und in welchem Maße war sie darin erfolgreich? Welche Argumentationsmuster wurden dafür entwickelt? Und gab es dabei Besonderheiten, die das Amt einer vormundschaftlichen Regentin mit sich brachte?

Fabian Voß

Betreuer: Prof. Dr. Johannes Süßmann

Wer zur allgemeinen Geschichte des europäischen Städtebaus bzw. zur römischen Stadtgeschichte am Ende des 16. Jahrhunderts im Speziellen forscht, kommt sowohl an Domenico Fontana (1543–1607) als auch an dessen Architekturbüchern (1590, 1604) nicht vorbei.

Bereits in ihrer Konzeption und Ausführung stellen die zwei Bände der Trasportatione dell’Obelisco Vaticano et delle fabbriche di nostro signore Papa Sisto V. einen Höhepunkt des frühneuzeitlichen Buchdrucks dar. Doch ganz im Gegensatz zur Vielzahl der in ihnen behandelten Bauprojekte ist die Forschung zu Fontanas publizistischem Werk überschaubar. Das liegt nicht zuletzt an dem Status, den man dem ‚Œuvre-Verzeichnis‘ des päpstlichen Hofarchitekten zusprach: Allein als neutraler Bericht aus erster Hand waren die Bücher von Interesse. So orientiert sich die Forschung zur Baupolitik unter dem Franziskanerpapst Sixtus V. (reg. 1585–1590) in weiten Teilen selbst auch an dem, was Fontana seine  Zeitgenossen wissen lassen wollte. Dass es sich dabei um eine grundlegende Fehleinschätzung handelt, die zugleich als Folge der medialen Eigenlogik und Überzeugungskraft der reich mit Kupferstichen ausgestatteten Folianten interpretiert werden kann, davon geht das Forschungsprojekt aus. In zwei Teilbereichen gehe ich unter dem Titel Papstherrschaft im Raumentwurf sowohl der Entstehung und politischen Dimension des gedruckten Werks als auch der politischen Dimension der Bauprozesse Fontanas im stato ecclesiastico nach.

Erstes Ziel der Studie ist die Erarbeitung von Erzähl- und Bildstrategien in den Büchern, die diese zum Instrument der propaganda für Papst Sixtus V., vor allem aber für Fontana selbst machen. Zudem entsteht in diesem Zusammenhang eine Publikationsgeschichte, die die ökonomischen Verhältnisse und Produktionsschritte rekonstruiert und die Trasportatione in den publizistischen Kontext der Zeit stellt. Auf Grundlage der archivalischen Überlieferung werden sodann die politischen Reformprozesse unter Sixtus V. aufgearbeitet, an denen Fontana beteiligt war und von denen er selbst profitierte. Dabei wird der Frage nachgegangen, wie die architektonischen und verwaltungsrechtlichen Projekte miteinander verwoben waren und wie die neu konstituierte Roma felix hergestellt, organisiert und vor allem finanziert wurde.
Zusammenführen lassen sich beide Aspekte durch eine Neubewertung Fontanas als politischer Akteur, der frühneuzeitliche Staatsbildung aktiv mitgestaltete. Damit soll die Fallstudie auch zu einer Neubewertung von Architekten im Kontext einer Kulturgeschichte des Politischen führen.

Markus Lauert

Betreuer: Prof. Dr. Johannes Süßmann

Das "Theatrum Europaeum", das von Matthäus Merian d. Ä. ins Leben gerufen und von seinen Erben mehrere Generationen lang fortgeführt wurde, besitzt eine multimediale Bandbreite an Inszenierungsformen. Die verschiedenen Darstellungsmodi haben gemeinsam, dass sie Narrationen transportieren können, in denen Ereignisse wie Schlachten, Friedensschlüsse aber auch Naturphänomene und Wundergeschichten wichtige Katalysatoren und Wendepunkte der Handlung bilden. Diese Ereignisse sind in den Geschehnissen selbst jedoch nicht angelegt; sie werden erst durch narrative Prozesse zu Ereignissen gemacht. Das Promotionsvorhaben stellt sich der Frage, wie aus einer Vielzahl chaotischer, unstrukturierter Geschehnisse im "Theatrum Europaeum" eine Narration geformt wird, die entlang verschiedener Ereignisse erzählt wird. Damit versucht es eine wichtige Lücke in der Medienereignis-Forschung des 17. Jahrhunderts zu schließen.

Prof. Dr. Johannes Süßmann

Wenn in deutschsprachigen Schriftquellen der Frühen Neuzeit das Wort „Religion“ auftaucht, hat die bisherige geschichtswissenschaftliche Forschung es meist im Sinne des modernen Begriffsverständnisses gelesen. Dadurch verstellt sie sich den Blick für mindestens drei grundlegende Wandlungen, die der Begriff im Verlauf der Frühen Neuzeit durchlief. In einer Folge von Lehrveranstaltungen wird Material für eine neue Begriffs- und Konzeptgeschichte von »Religion« im Hinblick auf zentrale Quellen der Frühneuzeithistorie gesammelt.
Schon jetzt zeigt die genaue Einzelanalyse, daß der Begriff auch in gleichzeitigen Texten bei gleicher Wortbedeutung, unter verschiedenen Vorzeichen gebraucht, ganz unterschiedliche Stoßrichtungen annehmen konnte.

Prof. Dr. Johannes Süßmann

„Belgien“, „die Niederlande“, „Luxemburg“, „Flandern“ – sämtliche Namen von Staaten des BeNeLux-Raums sind doppelsinnig: Während sie heute Einzelherrschaften bezeichnen, meinten sie ursprünglich umfassendere Räume oder die gesamte Region. Das zeigt, die Staaten sind durch Heraustreten entstanden. Ihre Namen verweisen zurück auf eine Region, in die sie auch nach der Verselbständigung eingebunden bleiben. Rückwärts gehend von den Gründungsverträgen der BeNeLux-Union bis zum Burgundischen Vertrag, wird untersucht, wie die Herrschaftsnamen in politischen Verträgen umgedeutet wurden, um auf diese Weise indirekt das (wechselnde) Verständnis des BeNeLux-Raums als Region zu erschließen.

Prof. Dr. Johannes Süßmann

Ausgehend von alten Bestandsverzeichnissen überwiegend aus dem 18. Jahrhundert, zielt das Vorhaben auf die digitale Rekonstruktion von fünfzehn ausgewählten frühneuzeitlichen Bibliotheken des Hellweg-Raums. Indem es die handschriftlichen Kataloge digital ediert, in Datenbanken verwandelt und mit Digitalisaten der erhaltenen Bücher verknüpft, gräbt es erstens ein verschüttetes Kulturerbe aus, macht es digital zugänglich und hebt es ins allgemeine Bewusstsein. Diese Erschließungsleistung für die Allgemeinheit bildet die Grundlage, um durch digitale Verfahren hermeneutische Forschungsfragen zu beantworten. So bezieht das Vorhaben zweitens methodisch Position innerhalb der Digital Humanities. Und zwar sollen drittens über die Bibliotheken deren historische Betreiber erschlossen werden: ihr politisch-konfessionelles Profil, ihre Interessen, ihr Bildungshorizont, Wissens- und Kenntnisstand. Da es sich um höchst unterschiedliche Träger handelte: weltliche und kirchliche, fürstliche, aristokratische und städtische, männliche und weibliche, katholische und evangelische, wird anschaulich, wie viele unterschiedliche politische Kulturen in der Region zusammenlebten. Viertens kann damit eine noch nie verwirklichte Forderung der Forschung eingelöst werden: nämlich verschiedene Bibliotheken gleichen Typs systematisch miteinander zu vergleichen. Dies soll sowohl im Hinblick auf die Bibliotheksprofile als auch auf die Beteiligung der Bibliotheksbetreiber am Kulturtransfer über den Hellweg geschehen.

Prof. Dr. Johannes Süßmann

An den Jesuitenuniversitäten der Frühen Neuzeit wurde nicht nur Studenten vermittelt, wie sie Medien für Liturgie und Predigt, Katechese und Seelsorge einsetzen konnten, das Alltagsleben der Kollegien umfaßte selbst permanenten, höchst komplexen Mediengebrauch. Die Jesuitenuniversität Paderbon, gegründet 1614 in einem konfessionell-problematischen Gebiet, dient als Fallbeispiel, um in einem Sammelband grundsätzlich über die unterschiedlichen Formen der Medialität und deren Wirkung im Kontext der Zeit nachzudenken. Darin wird die politische Kommunikation in der Stadt durch Präsenzmedien ebenso in den Blick genommen wie die Ausstrahlung auf das Paderborner Land und seine Nachbarn, die Fernkommunikation der Ordensniederlassungen untereinander und die Wirkung des Mediengebrauchs für die Reputation des Ordens nach außen.

Abgeschlossene Dissertationen

Visuelle Geschichte in den Zeichnungen und Holzschnitten zum Weißkunig Kaiser Maximilians I. Abgeschlossen an der Goethe-Universität Frankfurt 2014.

Im Druck erschienen u.d.T.: Visuelle Geschichte in den Zeichnungen und Holzschnitten zum ›Weißkunig‹ Kaiser Maximilians I., 2 Bd.e. Ostfildern 2015.

Zur Printausgabe

Autobiographik als ritterschaftliche Selbstverständigung: Hutten – Berlichingen – Herberstein. Abgeschlossen 2015.

Im Druck erschienen u.d.T.: Autobiographik als ritterschaftliche Selbstver-ständigung: Ulrich von Hutten – Götz von Berlichingen – Sigmund von Her-berstein (=Formen der Erinnerung. 70). Göttingen: V&R Unipress 2019. 

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Mit Marias Hilf'? Erzherzog Leopold von Österreich (1586–1632) zwischen Familienauftrag und Selbstpositionierung im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges. Abgeschlossen 2016.

Im Druck erschienen u.d.T.: Fürstbischof – Putschist – Landesherr. Erzherzog Leopolds Herrschaftsentwürfe im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges. Berlin, Münster: LIT 2017.

Zur Printausgabe

Glaube, Herrschaft und Gewalt. Die Französischen Religionskriege und der Aufstand der Niederlande in den Bildberichten Franz und Abraham Hogenbergs. Abgeschlossen 2016.

Im Druck erschienen u.d.T.: Das Auge der Geschichte. Der Aufstand der Niederlande und die Französischen Religionskriege im Spiegel der Bildberichte Franz Hogenbergs (ca. 1560–1610) (=Studies in Medieval and Reformation Traditions. 216). Leiden, Boston: Brill 2019.

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