Popkongress 2018 | Fünfzig Jahre Achtundsechzig

Das Jahr 1968 bedeutet eine historische Zäsur. Es markiert einen Wendepunkt in der Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft: Der Spätkapitalismus hat in Hinblick auf die dynamische Stabilität von Produktionsverhältnissen, Produktivkräften und Ideologie seinen Höhepunkt erreicht; die Überflussgesellschaft erodiert und im wohlfahrtsstaatlichen »Westen« werden Krisenerscheinungen ökonomisch manifest (Ölkrise), während in weiten Teilen Afrikas ganze Bevölkerungen in Hunger und Elend dahinsiechen; politisch sind die Massendemokratien mit Legitimationsproblemen konfrontiert (welche die Herrschaftsstrukturen nachhaltig tangieren – Stichworte: APO, NSB, Die Grünen, Thatcherism, »Neoliberalismus« etc.), anderenorts, von Chile bis Kambodscha, regieren Diktatur und Terror (und dies zumeist mit der bestürzenden Lüge, die Freiheit zu verteidigen). Ende der 1960er-Jahre hat sich der Imperialismus unter Bedingungen des Postkolonialismus, der internationalen Konkurrenz und der beginnenden Finanzialisierung zum Globalkapitalismus transformiert.

Die Folgen für die Kultur und Künste, die sich seit Mitte der 1950er Jahre unter dem Vorzeichen von Pop konsolidieren, sind gravierend: Popkultur ist die allgemeine Kultur des Globalkapitalismus, und zwar gerade in der »Pop«-spezifischen Vermittlung von Ökonomie und Ästhetik beziehungsweise in der »Pop«-spezifischen Vermittlung von abstrakter Kapitallogik und konkretem Alltagsleben, Tauschwert versus Gebrauchswert (und man kann hinzusetzen: versus Gebrauchswertversprechen). »Pop« wird gesellschaftlich ubiquitär, und dies insbesondere im Bereich der Musik. Musik ist als sich mehr und mehr ausdifferenzierende so genannte populäre Musik im Medienverbund vor allem mit Film und Fernsehen einer enormen Kommerzialisierung und Kommodifizierung unterworfen, obwohl (oder gerade weil) sie ihren gesellschaftlichen Ausdruck in zahlreichen – »subversiv«, »dissident«, »provokativ« agierenden oder als derart interpretierten – Jugendsubkulturen hat. Das System der Kulturindustrie weitet sich in alle gesellschaftlichen, schließlich privaten Lebensbereiche aus – und dies weitgehend im Schein von »ästhetischen« wie auch »politischen« Strategien der Selbstermächtigung und Widerständigkeit: Gesellschaftlicher Konformismus erscheint als kultureller Nonkonformismus – ohne dass dieser Widerspruch für Irritationen sorgt (vielmehr erweist sich gerade an den sozialen Überformungen der Popkultur, dass und wie der Kapitalismus in der Lage ist, selbst noch die radikalsten Gegenkräfte zu integrieren und sich schließlich sogar zunutze zu machen). 

Paradigmatisch dafür sind etwa das Woodstock-Festival oder Supergroups wie Led Zeppelin, Yes, The Who, Pink Floyd etc. Ebenso aber auch die Wandlungen der Unterhaltungsmusik (Schlager) und die technische Erweiterung der Distributionskanäle (Radio, Musik im Fernsehen als programmstrukturierend, Hi-Fi, Stereo, Musik als integraler Bestandteil der individuellen Lebensgestaltung: Style, Geschmack, Fantum, Distinktion etc.).

Ebenso paradigmatisch werden soziale und technische »Fortschritte« des Spätkapitalismus; in Stichworten: Die Schallplattenindustrie löst sich bereits in den 1950ern von der Filmindustrie; ökonomische Verbindung von Labels und Abspielgeräteherstellung; lebensweltliche Rückkopplung von Konsum, Technik, Ästhetik (»Sound«); Musikfernsehen, neue Formate (LP, CD), schließlich »mikroelektronische Revolution«, Digitalisierung und Computerisierung seit den 1980ern.

Die Ausweitung und Ausdifferenzierung des Musikbetriebs betrifft insofern auch die Kulturindustrie als Popkulturindustrie: Sie wird einerseits als »Industrie« verdichtet, stabilisiert und konzentriert in einem Konglomerat von Groß- und Einzelunternehmen, andererseits als »Kultur« zur allgemeinen Struktur des »whole way of life«.

Überdies verschränken sich Genres, Inhalte und Formen zum Medienverbund: Einerseits kann von einer Pluralisierung (und Individualisierung) der Kulturindustrie gesprochen werden (Punk, Disco, ›Star Wars‹, ›Dallas‹, Computerspiele, Techno, New Wave, ›Indiana Jones‹, ›Tatort‹, Kinderfernsehen etc.), die andererseits allerdings eine nachhaltige Bindung an – beschränkte, geschlossene – Programmsparten bedeutet (dies ökonomisch im Kontext der massiven Privatisierung bisher »öffentlich-rechtlicher« Bereiche der »Kultur«).

Ideologisch ist diese Entwicklung des Pop zur allgemeinen, allgegenwärtigen Kultur vom Umschlag der Moderne zur Postmoderne begleitet; ein Umschlag, der sich auch in der Theorie bemerkbar macht und schließlich den epistemologischen wie ökonomischen Boden bereitet für die Etablierung der heutigen Kultur- und Medienwissenschaften, die sich mit Phänomenen des Pop im weitesten Sinne beschäftigen.

Roger Behrens und Olaf Sanders

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