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Das Böse kommt nicht vom Kapitalismus – Interview mit Ruth Hagengruber

Anlässlich der aktuellen Ausgabe zum Thema “DER KAPITALISMUS AUF DER COUCH” haben wir ausgewählten Personen drei Fragen zu diesem Thema gestellt – darunter auch Prof. Dr. Ruth Hagengruber. Sie hält die gängige Kapitalismusschelte für einen Vorboten nationaler autoritärer Bewegungen und plädiert dafür den Kapitalismus nicht zu dämonisieren, sondern zu demokratisieren.

Das Böse kommt nicht vom Kapitalismus – Interview mit Ruth Hagengruber

 1. Frau Hagengruber, welchen Aspekt des Kapitalismus finden Sie am interessantesten und am ehesten zu bedenken?

Die heute verbreitete Kapitalismusschelte darf gewiss mehr als Trend denn als Einsicht angesehen werden. Wer den Kapitalismus gar ins Reich des Bösen verweist, ist sich der Zustimmung der Vielen und daher auch der Medien gewiss. So einfach ist es nicht. Kein Zweifel, auf Trug gebaute Kapitalakkumulationen, Intransparenz verstören den „Normalbürger“, der es sich nur im Rahmen seiner Einkünfte leisten kann, die eigenen Ideen zu realisieren. Und der überzeugt ist: Das Gute im Leben kann mit Kapital nicht erkauft werden. In dieser Spanne zwischen Enttäuschung und überzogenen Hoffnungen ermöglicht uns die philosophische Perspektive wieder einen neuen Blick auf die Ökonomiegeschichte und auf das, was unter Kapital überhaupt zu verstehen ist. Dabei ist es wohl nicht zufällig, dass ihr Begründer, Adam Smith ein Moralphilosoph war. Philosophie und Ökonomie sind schon seit der Antike, also seit dem Anfang der Philosophie eng verzahnt. Kein geringerer als Sokrates hinterließ folgende Anweisung, das Vermögen zu mehren: auxein ton oikon. Das überliefert Xenophon. Klug, wie diese antiken Denker waren – übrigens waren es auch Denkerinnen, denn in eben diesem Buch bezeichnet Sokrates Aspasia als seine Lehrerin – wissen sie, dass die Vermehrung des Vermögens zwar das Ziel der Ökonomie darstellt, aber auch, dass es dabei nicht um quantitative, sondern um qualitative Werte geht.

Vermögensmehrung aus dieser philosophischen Perspektive meint nämlich, die subjektive ganz persönliche Beurteilung und Einschätzung über eine Sache. Sokrates bringt dafür anschauliche Beispiele: Es nützt nichts, wenn einer ein Pferd besitzt, das ihn tritt! Obwohl quantitativer Besitz, ist es kein Vermögen, sondern einen Schaden! Selbst, wer keinen direkten Schaden nimmt, aber auch keinen Vorteil, handelt unweise. Wer eine Flöte besitzt, die er nicht spielen kann, schadet sich und seinem Vermögen.

Was Xenophon hier durch den Mund des Sokrates mitteilt ist die Einsicht, dass unser Urteil der Ausdruck des Wissens über Nutzen und Gebrauch eines Dings ist. Es ist ein ganz persönliches Urteil, das vom Urteilenden abhängt. Das Urteil spiegelt sozusagen den Urteilenden. Dieser Mehrwert, den der Urteilende reklamiert, spiegelt sein Wissen um die Sache und reziprok. Die Vermögensmehrung, damit das Kapital, kommt folglich aus diesem Wissen, nicht aus der Sache. Das war die ideale Auffassung Xenophons.

Aus dieser Einsicht lassen sich viele interessante Urteile ableiten. Z.B. auch diejenige, dass Kapital sich nicht auf Geld oder Boden oder Produktionsmittel beschränken lässt. Der wahre Grund des Kapitals ist der qualitativ zugemessene Mehrwert, der sich in der Sache verdinglicht. Nutzen und Gebrauch werden sozusagen erfunden. Zuckerberg und Gates, Rubinstein, Google und Skype präsentieren heute in dem von ihnen kreierten Kapital die Transformation der Ideen zu Kapital. Wir kreieren den Mehrwert. Wir kreieren das Kapital. Heute ist praktisch allen klar, dass Kapital nicht im Geld liegt. Das wahre Kapital ist Wissen. Was wir als Kapital ansehen, wandelt sich. Wenn wir wollen, können wir den ganz  großen Kapitalisten unseren Zuspruch entziehen – jedenfalls, wenn wir die demokratische Kontrolle ausüben können und verstehen lernen, dass der Kapitalismus, wie alles und wir selbst, notwendig korrekturbedürftig sind.

Der demokratischen Korrektur des Kapitalismus geht es daher um die große Streuung des Zugangs zum Kapital, das idealerweise in vielen Ländern dieser Welt aktiv ist und dabei zugleich die Auflösung autoritärer oder und patriarchaler Herrschaft mit sich führt.

Dieser eigentlich demokratische, aber auch globale Prozess beflügelt die Angst des Einzelnen in den Wohlstandsländern, sie möchten dabei ihr „bisschen Kapital“ verlieren. Die globale Strategie des modernen und partikular orientierten Kapitalismus wird von den neuen nationalistischen Bewegungen bekämpft. Sie sind Bewegungen, denen die Streuung und Partikularisierung des Kapitals zuwider ist.

Das Kapital hat das Bürgertum von der Adelsherrschaft befreit und China zum Global Player gemacht. Das Kapital kann alte Ordnungen verwerfen. Die anderen versprechen das Gute, wenn sie das Kapital in der Hand halten. Hier kommt es darauf an, für wen wir uns entscheiden, solange wir die Chance haben, uns zu entscheiden, wem wir unser Kapital anvertrauen. Selbst die Grünen versprechen, „Rente geht auch grün“. Kapital kann man in jeder Version ansparen und vermehren, je nachdem für welches „gute“ man sich entscheidet, solange es einem noch frei steht, sich zu entscheiden. Wer will diese Vertreter der neuen Bewegungen als zentrale Verwalter der dann wieder deutschen Finanzkraft? Der freie Bürger wird dann weniger frei sein, sein bisschen Vermögen nach seinen eigenen Vorstellungen zu vermehren. Man muss den Kapitalismus demokratisieren, nicht zentralisieren.

2. Warum konnten sich die Menschen so schnell und unbemerkt für das kapitalistische Denken begeistern? Entspricht der Kapitalismus unserer Natur?

Die Freiheit für einen Menschen wächst mit seiner Möglichkeit, seine eigenen Vorstellungen zu  realisieren. Kapital ist einerseits genau das, was wir dank unseres eigenen Vermögens in den Dingen sehen. Unser Blick auf die Dinge der Welt und wie wir sie für unsere Interessen nutzen können, gehört wesentlich zu unseren Aktivitäten. Noch erfreulicher ist es, wenn sich die Welt nach unserem Urteil formen lässt. Das ist letztlich der Wunsch der Menschen, sozusagen anthropologische Determinante. Die Dinge nach der eigenen Vorstellung zu bewerten, ist ein Teil der Selbstverwirklichung. Wir realisieren uns und verdinglichen unser Ego auf diese Weise in den Dinger der Welt. Das Ich verdinglicht sich im Nicht-Ich, sagen die Philosophen. Damit realisiert sich das säkulare Glück im Hier und Jetzt und nicht im Jenseits. Dem Individuum scheint es, als könnte es sich damit verewigen.

Nun entbrannte mit Rawls, allerdings nicht zum ersten Mal in der Philosophie, die Debatte, ob die natürliche Verschiedenheit der Menschen nicht ungerecht und daher der Ausgleich der natürlichen Vorteile „zentral“ gesteuert werden müsse. Die natürliche Verschiedenheit auszugleichen ist nun zur Aufgabe all deren geworden, die sich auf den quantitativen Ausgleichs spezialisieren. Wer aber kann es quantifizieren? Alle fischen im Trüben. Aristoteles und Thomas Hobbes vertraten die Auffassung, die Verschiedenheit der Menschen sei per sei die Voraussetzung und fruchtbare Grundlage aller Gemeinschaften. Gleichheit hingegen mache sie unmöglich, oder, wie bei Hobbes, mache die Idee der natürlichen Gleichheit sogar „mörderisch“. Nach Aristoteles kann es keine Gemeinschaft geben „mit zwei Bauern, oder zwei Ärzten“. Es braucht einen Arzt und einen Bauern, damit der Ausgleich stattfinden kann. Die Verschiedenheit ist selbst Ursache der Entwicklung der eigenen Fähigkeiten und der Differenzierung der Tätigkeiten.

Das Problem des gegenwärtigen Kapitalismus sind seine Störungen. Zwischen „gut“ und „böse“ werden die Eigenschaften des Kapitalismus tariert, als hielte man einen Gott in den Händen. In der Tat, die Möglichkeiten, die sich durch die Kapitalisierung erschließen, sind gewaltig. Wir aber befinden uns erst in den Kinderjahren der Entwicklung. Die Smartphones bieten theoretisch interessante Möglichkeiten einer demokratischen Distribution, aber auch hier hatten die verbrecherischen Absichten schneller die Hand auf den Geräten, als die aufgeklärte Bürgerin. Sie und politische Gewalt stören diesen Markt, wie wir täglich hören. Sie spionieren, malträtieren, und wollen sein Scheitern, aber nur für den einzelnen Bürger, für ihre eigenen Vorteile wollen sie sein Funktionieren, damit sie wieder eines haben: Kontrolle, Autorität, Kapital, Macht, andere für ihre Zwecke zu missbrauchen.

 

3. In unserer aktuellen Ausgabe liegt der Kapitalismus auf der Couch. Er ist ausgebrannt, kaum jemand glaubt noch ernsthaft an ihn, immer häufiger fragt man sich “wozu”, Krisenstimmung macht sich breit. Ist die Blütezeit des Kapitalismus vorüber?

Die gegenwärtig modische aber häufig ideologische Kapitalismusschelte besteht aus einer Reihe von Schuldzuweisungen, die den Kapitalismus per se nicht treffen, sondern seinen Missbrauch und seine Akteure. Der verbreitete Antikapitalismus unserer Gesellschaft ist eine Vorstufe der politischen Bewegungen, die wir heute beobachten, die autoritäre Tendenzen verfolgen. Für sie ist die weltweit gestreute Kapitalmacht ebenso wie die Demokratie eine Herausforderung.

Kapital ist gefährlich, wenn es in der Hand weniger liegt und eigentlich ist Kapitalismus dann gar nicht mehr möglich. Der Kapitalismus ist umso weniger entfaltet, je mehr er die Einzelnen aus dem Marktzugang ausschließt und je mehr nur wenige definieren, was denn das (Gute) ist, das mit dem Kapital erzeugt werden soll. Intransparenz und Akkumulation verhindern, dass sich Menschen mit ihren Fähigkeiten einbringen. Das sind die wirklichen Störungen. Das hat aber gar nichts damit zu tun, ob ein Fußballspieler oder ein Vorstandschef 15 Millionen im Jahr verdienen darf oder zehn. Diese Leute verdienen ihr Geld auf dem Markt, der wenigstens insofern frei ist, als wir zu diesem Prozess nicht beitragen müssen. Wer die Versicherung wechseln kann, geht zu der, die die effizienteste für ihn ist. Vielleicht ist es die, bei der der Vorstand 5 Millionen verdient, vielleicht jene, wo er 15 verdient. Schlimm wird es, wenn wir keine Auswahl mehr haben, wenn wir auf ein Produkt angewiesen sind. Dann hat die demokratische Kontrolle versagt.

Auch in unserer Gesellschaft herrschen autoritäre Ausschlüsse. Das betrifft die Frauen, das betrifft z.B. aber auch alle jene Menschen, die in dieses  Land kommen wollten, und ihre Arbeit anbieten wollten, wie es Immanuel Kant in seiner Schrift vom Ewigen Frieden gefordert hat. Die Gerechtigkeit des Marktes zu erhöhen, hat auch damit zu tun, den Markt zu öffnen und transparenter zu machen. Das Gegenteil ist aber der Fall und wird von vielen gefordert. Opel soll in Bochum bleiben, Nokia soll nicht in Rumänien produzieren und die Flüchtlinge sollen nicht die Arbeitsplätze wegnehmen. Die nationale und zentrale und autoritäre Verwaltung des Kapitals folgt dem Wunsch der Stunde.

Wir stehen im Zeichen des Umbruchs. Wenn wir es schaffen, eine breite und kreative Kapitalwirtschaft zu erhalten, sind wir politisch – im globalen Rahmen — stabiler. Die Tendenzen der nationalen und auch der patriarchal begründeten Zentralisierungen laufen jedoch diesem Ziel entgegen. Dabei gibt es diesen Zusammenhang zwischen einer demokratischen, kapitalistischen und individualistischen Gesellschaft auf der einen Seite und der antikapitalistischen, autoritären Gesellschaft auf der anderen. Die Dämonisierung des Kapitalismus war nur ein Vorspiel zu den politischen Bewegungen der Gegenwart.