Der Schriftsteller Michael Kumpfmüller wird am 2. Dezember 2019 die 38. Paderborner Gastdozentur für Schriftstellerinnen und Schriftsteller am Institut für Germanistik und Vergleichende Literaturwissenschaft der Universität Paderborn übernehmen. Die Gastdozentur wurde 1983 eingerichtet und ist ein Angebot der Universität für alle – nicht nur für Studierende –, die in Paderborn und Umgebung an Literatur interessiert sind. Markus Orths und Michael Roes hatten zuletzt die Gastdozentur inne. Die Gastdozentur findet montags, 16:15-17:45 Uhr im Hörsaal G auf dem Campus der Universität statt.
Michael Kumpfmüllers Gastdozentur trägt den Titel "Unsere paralympischen Spiele. Vom Umgang mit Tieren, Menschen und Göttern", und am Montag, dem 2. Dezember 2019, startet sie mit einem Vortrag zum Thema "Der Blick zur Erde". Es folgen zwei weitere Vorträge am 9. Dezember 2019, zum Thema "Der Blick zum Anderen", und 16. Dezember 2019, zum Thema "Der Blick zum Himmel". Im Januar schließen sich dann zwei thematische Werklesungen an, und zwar am 13. Januar 2020 unter dem Titel "Zum Bösen", anhand des Romans "Durst", und am 20. Januar 2020 unter dem Titel "Von der Rettung in letzter Minute", anhand des Romans "Die Herrlichkeit des Lebens".
Michael Kumpfmüller, geboren am 21. Juli 1961 in München, studierte von 1981 bis 1990 Germanistik und Geschichte in Tübingen, Wien und Berlin. Seit 1985 ist er als freier Journalist tätig, und verfasst Reportagen, Portraits und Kolumnen für diverse Zeitungen wie "Die Zeit", den "Tagesspiegel" und die "Frankfurter Rundschau". 1994 wurde er mit der Dissertation "Die Schlacht von Stalingrad. Metamorphosen eines deutschen Mythos" promoviert. Von 1996 bis 1998 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der FU Berlin. Seit 2000 lebt er als freiberuflicher Schriftsteller in Berlin. Sein 2011 veröffentlichter Roman "Die Herrlichkeit des Lebens" wurde zum Bestseller und ist bereits in 23 Sprachen übersetzt worden. Für seine Werke erhielt er unter anderem folgende Auszeichnungen: Walter-Serner-Preis für Krimigeschichten (1993), Katholischer Journalistenpreis (1997), Arbeitsstipendium des Deutschen Literaturfonds Darmstadt (1998/1999 und 2005/2006), Film- und Fernsehpreis des Hartmannbundes in Zusammenarbeit mit Thomas Hallet (2000), Arbeitsstipendium des Berliner Senats (2007), Alfred-Döblin-Preis (2007), Landgang-Stipendium (2017).
Die literarische Bandbreite ist groß, mit welcher der Erzähler Michael Kumpfmüller in den vergangenen zwanzig Jahren auf ganz eigentümliche Weise das Verhältnis von Oberfläche und Tiefe, Vergangenheit und Gegenwart, Wahrnehmbarkeit und Erzählbarkeit ausgelotet hat. Sie reicht vom lockeren Parlando-Ton des Schelmenromans "Hampels Fluchten", mit dem er 2000 seinen ersten großen Erfolg auf dem Buchmarkt hatte, bis zum nüchternen Berichtsgestus des Psychodramas "Durst" (2003), das unter der Oberfläche eines erschütternden, auf der Materialebene authentischen Kriminalfalls eine Geschichte von grundsätzlichem Rang über die menschliche Natur entfaltet. Gattungstypologisch spannt Kumpfmüller den Bogen dabei von der kleinen Form, der Miniatur, der Novelle und dem Kurzroman ("Die Herrlichkeit des Lebens" [2011], "Tage mit Ora" [2018]), bis zum großen Epochenpanorama ("Hampels Fluchten") und dem politischen Zeitroman ("Nachricht an alle", 2008). Die präzise, detailgenaue Recherche bildet den Humus dieses Gegenwart und Geschichte gleichermaßen umkreisenden Werkes, das sich gerade in seiner facettenreichen Gattungsvielfalt selbst immer wieder in Frage stellt, neue Tonarten und Schreibweisen erprobt, um sich ganz unmittelbar der Wirklichkeit mit ihren 'großen' Themen (Gewalt, pathologische Verhaltensweisen, Machtspiele, Liebe) 'zuzusprechen'. Als eine Form der Wirklichkeitsaneignung durch Hinneigung, Einlassung und Erschließung lässt sich dieses Verfahren einer mimetischen Poesie beschreiben, welche die medial bildergesättigte und in dieser Bildersättigung immer unbegreifbarer werdende Welt wieder in die Sichtbarkeit stellt. Ihre Voraussetzung ist die Öffnung von Blickfeldern, die buchstäbliche Entschlüsselung der durch Sichtblenden verstellten Wirklichkeit. Wenn Michael Kumpfmüller in einem seiner jüngeren Interviews sagt: "Für mich ist ein Text dann gut, wenn er Lücken lässt", ist damit der poetologische Nukleus eines Werkes markiert, das in immer neuen Anläufen die unwidersprochene Logik und Evidenz unserer Wirklichkeitswahrnehmung und das heißt auch der unwidersprochenen Sprachwerdung der Welt in Frage stellt. Das gilt für einen Roman wie "Hampels Fluchten", der sich mit der 'inversen' Republikflucht seines erotomanen Titelhelden von Ost nach West in (auch) satirischer Weise mit der deutschen Teilung und dem Ost-West-Konflikt auseinandersetzt; das gilt ebenso für den vielschichtig und vielstimmig konstruierten Versuch über die Politik "Nachricht an alle", mit dem Kumpfmüller sich erzählerisch vorwagt in den Maschinenraum der Macht im Zeitalter einer nur noch postheroischen Politik, und das gilt ebenso für die Seelenerkundung "Die Erziehung des Mannes" (2016), in der ein Mann beziehungsfähig zu werden lernt. Das gilt vor allem auch für die kürzeren Erzähltexte "Die Herrlichkeit des Lebens" (2011) und "Tage mit Ora" (2018), in denen Kumpfmüller am Beispiel Kafkas von der Erfahrung des Glücks im Angesicht des entschwindenden Lebens berichtet bzw. in der Gestalt einer Roadnovel von den Zufällig- und Brüchigkeiten der Liebe erzählt. Allemal nutzt Michael Kumpfmüller den Roman, die Novelle oder einfach nur die Erzählung, um etwas über die Funktionsweise des menschlichen Zusammenlebens in Erfahrung zu bringen, das die mediale Berichterstattung so nicht zum Ausdruck bringt. Die Eleganz und Finesse, mit der Michael Kumpfmüller in seinen Werken dabei die Welt hineinholt in das Erzählen, ist eine (mögliche) Antwort auf die Frage nach der Erzählbarkeit komplexer Wirklichkeiten.
Weitere Informationen zur Paderborner Schriftstellergastdozentur sind auf den Bereichsseiten der Neueren deutschen Literaturwissenschaft zu finden.