Ziganistische Geschlechterphantasien. Wandlungen eines Paradigmas in Gattungs- und Medientransfers am Beispiel von Esmeralda und Carmen

Die Begriffe „Zigeunerin“ und „Zigeuner“ und ihre nunmehr obligatorischen Anführungszeichen sind ein zentrales Beispiel dafür, wie gegenwärtig im Zeichen der wokeness langlebige Stereotypisierungen, Projektionen und Stigmatisierungen in die Kritik geraten (sind). Mit der erstmaligen Berufung eines Antiziganismus-Beauftragten hat auch die Bundesregierung ein konkretes politisches Zeichen gesetzt. Jüngste positive Ereignisse und Maßnahmen zur Bekämpfung des Antiziganismus schließen jedoch nicht den Fortbestand wirkmächtiger Phantasien aus, die mit dem Konstrukt der „Zigeuner“ (im Plural) verbunden sind – Phantasien, die zudem eine deutliche Geschlechtersignatur tragen, insofern mit besonderem Nachdruck gerade die Zigeunerin aufgerufen wird. Komplexe Geschlechterphantasien (ganz im Sinne der titelgebenden „rêverie tzigane“ des abgebildeten Courbet-Gemäldes) werden von antiziganistischen Ressentiments und Narrativen flankiert, die im Zuge der Corona-Pandemie – einem kontemporären Ereignis, welches beispielhaft für die Verlagerung von Ängsten, Ungewissheiten und Problemen auf Projektionsfiguren einsteht – erneut aufgeflammt sind. Dies führt vor Augen, dass das Thema der „ziganistischen“ (von frz. tsigane) Fremde und deren geschlechtliche Codierungen auch im postmodernen Zeitalter noch nicht hinreichend aufgearbeitet sind.

Das Promotionsprojekt legt den Fokus anhand zweier kulturgeschichtlich besonders wirkmächtiger ‚Zigeunerin‘-Figuren, die ihren Ursprung im Frankreich des 19. Jahrhunderts finden – Esmeralda und Carmen –, auf ziganistische Geschlechterphantasien, d.h. Phantasien der weiblichen „Zigeunerin“ als ein im kulturellen Gedächtnis verankertes Konstrukt, das hier als ziganistisches Paradigma bezeichnet wird. Die vielfältigen künstlerischen Repräsentationen, denen das Projekt mit Blick auf narrative und dramatische Texte, Oper und Film nachgeht, zeigen, dass dieses Paradigma auf einer signifikanten Überblendung von gender, class und race aufbaut. Die Produktionen ‚typisch weiblicher‘ und ‚typisch ziganistischer‘ Identitätszuschreibung sind nicht unabhängig voneinander zu denken, sondern sie potenzieren sich in ihrer Intersektionalität.

Die titelgebenden Wandlungen des ziganistischen Paradigmas, welche aus stetigen Konkretisierungen in verschiedenen Gattungen, medialen und nationalen Kontexten resultieren, gilt es im Rahmen des Promotionsprojektes zu untersuchen. Im Zentrum steht hierbei die Frage, wie sich das Zusammenspiel von gender, class und race in den Transferprozessen zwischen Gattungen und Medien – bzw. in der komplexen Rezeptionsgeschichte der „Zigeunerin“-Figuren Esmeralda und Carmen – jeweils konkretisiert und wie es in historischer Perspektive fortlaufend transformiert wird. Die Produktion der Differenzkategorien gender, class und race wird anhand einer Auswahl zentraler Werke untersucht: Neben den kanonischen Texten, die Esmeralda und Carmen überhaupt erst hervorbrachten (Notre-Dame de Paris (1831) von Victor Hugo und die Novelle Carmen (1845) von Prosper Mérimée), sollen unter anderem auch das bislang von der Forschung wenig beachtete Libretto La Esméralda (1836) von Victor Hugo, George Bizets Oper Carmen (uraufgeführt 1875 nach einem Libretto von Henri Meilhac und Ludovic Halévy) sowie epochenmachende Filmadaptionen beider Stoffe hinzugezogen werden. Das übergreifende Erkenntnissinteresse des Promotionsprojekts besteht demnach in der Ausarbeitung einer historischen Genese wirkmächtiger Phantasien über Alterität unter der besonderen Berücksichtigung ihrer geschlechtlichen Dimensionen.

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