Liebestragödie. Gene­a­lo­gi­en ein­er fran­zös­is­chen Gat­tung des 17. Jahrhun­derts

Das Projekt widmet sich mit der französischen Tragödie des 17. Jahrhunderts einem vielkommentierten Herzstück der Literaturgeschichte. Die hier unternommene Neuperspektivierung geht von der Beobachtung aus, dass sich die französische Tragödie im Zuge ihrer ‚Renaissance‘ in den 1630er Jahren als Liebestragödie neu konstituiert, d.h. als eine Tragödie, in der die Liebe erstmals wesensbestimmende Funktionen übernimmt. Nicht zufällig koinzidiert diese Entwicklung in Frankreich mit fundamentalen Veränderungen der Geschlechterordnung, in deren Folge sich ein galantes Theaterpublikum herausbildet, das sein Selbstverständnis an Werten wie civilité, honnêteté und tendresse bemisst und nach entsprechenden Handlungen und Referenzfiguren auf der Bühne verlangt.

Gattungsgeschichtlich ist hiermit indes ein erhebliches Problem aufgeworfen, insofern diese Liebestragödie in ein Spannungsverhältnis zum antiken Gattungsmodell tritt, das keine Liebestragödie im eigentlichen Sinne kennt. Mit der Liebe diffundieren Elemente in die Tragödie, die traditionell anderen Gattungen, anderen dramatischen Genres und anderen Stillagen zugeordnet sind. Hinzu kommt, dass die Liebestragödie die tradierte Bindung der Tragödie an einen Begriff ‚starker‘ Männlichkeit, wie sie die aristotelische Poetik prominent ausstellt, kategorisch aufsprengt, um neue – männliche und weibliche – Handlungsspielräume und Heroismen auszuloten.

Am Beispiel ausgewählter Tragödien der Gebrüder Pierre und Thomas Corneille, Scudérys, Rotrous, Quinaults, Villedieus und Racines stellt das Projekt heraus, wie sich die französischen Tragödien des 17. Jahrhunderts und ihre poetologischen Reflexionen als fortwährende produktive Auseinandersetzungen mit diesem Problem begreifen lassen. Es entstehen konkurrierende Konzeptionen der Liebestragödie, die sich in den jeweils entworfenen Genealogien ausmachen lassen, die auf die antike Gattungstradition und die zeitgenössischen ‚sozialen Energien‘ verweisen. Anhand ebendieser Genealogien kann die Liebestragödie zum einen als genuiner Beitrag Frankreichs zur – im Sinne Erich Auerbachs ‚abendländischen‘ –Gattungsgeschichte der Tragödie lesbar gemacht werden, und zum anderen als privilegierter Ort der Verhandlung drängender gesellschafts- und geschlechterpolitischer Fragen.

Kon­takt

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PD Dr. Hendrik Schlieper

Komparatistik/Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft

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