„L'esprit aime l’inconnu,“ oder „de geest houdt van het onbekende“. Getreu diesem Ausspruch von René Magritte reisten vom 20. bis zum 22.04.2023 Kunst- und Französischstudierende der Universität Paderborn nach Ostende, Gent und Brüssel. Ermöglicht haben diese Exkursion durch ihre große Unterstützung durch Vermittlung des Generaldelegierten Flanderns Nic Van der Marliere die flämische Tourismusinstitution VISITFLANDERS, die Fakultät für Kulturwissenschaften und das International Office der Universität Paderborn.
Im Fokus dieser Exkursion standen Kristallisationspunkte der modernen Kunst in Belgien mitsamt ihren vielschichtigen internationalen Verbindungen. So schnupperten die Studierenden in eine interkulturelle Kunst- und Kulturgeschichte hinein – und nebenbei ein wenig Seeluft. An die Exkursion schlossen sich auch Teilnehmer*innen eines BELZ-Basisseminars an, das sich mit der Konstruktion der belgischen Nationalidentität im 19. Jahrhundert befasst. Am königlichen Badeort Ostende, sowie im (scheinbar) mittelalterlichen Gent und in der Hauptstadt Brüssel gibt es schließlich genug Relikte dieser Identitätsbildung. Die BelgienNet-Redaktion freute sich währenddessen über eine Gelegenheit, reichlich Bildmaterial für das BelgienNet anzufertigen.
In Ostende erwartete sie neben dem Meer sogleich eine erste Ausstellung moderner flämischer Kunst: Das Mu.ZEE präsentierte auf mehreren Ebenen Gemälde von Léon Spilliaert, James Ensor, Rik Wouters, Constant Permeke und vielen weiteren Künstler*innen. Besonderes Augenmerk ruhte hierbei auf Spilliaert: Von seinen expressiven Darstellungen menschlicher Depressionen über seine Porträtmotive bis hin zu Abbildungen teilweise surreal wirkender Baumlandschaften eröffnete sich ein großes gestalterische und motivisches Repertoire, welches fast nicht auf einen Nenner zu bringen ist. Alle Gemälde einte jedoch eine Kritik an einem Fortschrittsoptimismus, der Natur weniger wertschätzend denn unterwerfend betrachtet. Eine ähnliche Perspektive vermittelten Ensors Gemälde, wobei die impressionistisch wirkenden Strandbilder höchstwahrscheinlich auch auf den Badeort Ostende referieren. Unkonventionell erscheint insbesondere sein „Selbstporträt mit einem Hut mit Blumen“, welches eine selbstironische Hommage an Rubens darstellt. Dieses humoristisch wirkende Motiv war denn auch vielen Souvenirs eingeprägt.
Von diesem kunsthistorischen Anfang aus ging es am nächsten Tag in das Museum voor Schone Kunsten in Gent. Hier erweiterte sich nochmals der Horizont: Ausgehend von französisch geprägten Gemälden aus dem 16. Jahrhundert, die sich durch ihren künstlichen Malstil auszeichneten, durchschritten die Studierenden in kurzer Zeit mehrere Jahrhunderte kulturgeschichtlicher Verwandlung, um dann im 19. Jahrhundert anzukommen. Gemälde von Théo Van Rysselberghe, Théodore Géricault und Ensor zeichneten eine kulturelle und politische Emanzipationsbewegung nach, die Belgien und insbesondere flämische Künstler in Verbindung mit Frankreich durchlaufen haben. Fast schon hierfür paradigmatisch durchbricht beispielsweise das Unheimliche des „Kleptomane[n]“ von Géricault jede sauber-künstliche, erhaben wirkende Fassade, welche den französischen Salons als idealer Stil galt. Ebenso wirkten die Linien von Jahr zu Jahr weniger konturenhaft und verschmolzen mehr und mehr mit dem Übrigen. Dies wirft ein erhellendes Licht auf die Herausbildung des Expressionismus und Symbolismus.
Eine herausgehobene Rolle inmitten dieser weitläufigen kunstgeschichtlichen Bewegung nahm überdies der flämische Bildhauer Georges Minne ein: Dessen Skulpturen aus dem 19. Jahrhundert umfassten eine an die Antike erinnernde Körperlichkeit, die zugleich durch gotische Längungen geprägt ist. Zutiefst menschliche Sujets wie den Glauben, das Leid einer Frau, die ihr Kind verloren hat, und die damit verbundene Theodizeefrage, werden von Minne an den Betrachter herangetragen. Nach diesem Museumsbesuch erkundeten die Studierenden zudem die Altstadt Gents, wo sich einige bunte und detailreich ausgearbeitete Hausfassaden als Impressionen regionaler und überregionaler Baukunst darboten.
Schließlich warfen die Studierenden einige Blicke ins Brüsseler Musées royaux des Beaux-Arts de Belgique bzw. Koninklijke Musea voor Schone Kunsten van België. Bereits an den Hausfassaden verwiesen einige riesige Plakate auf eine umfangreiche Magritte-Ausstellung und dessen künstlerischer Arbeit am modernen Plakat: Bilder wie die Friedenstaube oder der Mann mit dem Apfel durchbrachen jede Einheit von Zeichen und Bezeichneten und durchkreuzten die vermeintlich eindeutige Referenzialität werbewirksamer Botschaften.
Im Innern des Museums erlebten die Student*innen dank einer exzellenten Führung erneut einige Jahrzehnte der modernen Kunstgeschichte. Ausgehend von Spilliaerts Illustrationen berühmter Theaterwerke von Maurice Maeterlinck, dem späteren Literaturnobelpreisträger, wurde vordergründig das Lebensgefühl der Décadence ersichtlich: Die düsteren, im Wortsinne übernatürlichen und damit über dem rational Erklärbaren stehenden Motive entflohen allen rein logischen Weltdeutungen. In seinen Buchillustrationen zeigte sich sein früh ausgereiftes, künstlerisch-grafisches Können. Diese Illustrationen, die deutlich die Stimmungen der Theaterstücke zu transportieren suchten und nicht ihre Inhalte, standen in einem reizvollen ästhetischen Spannungsverhältnis zu Spilliaerts‘ teils deutlich geometrischen Bildkompositionen, durch die er die moderne Rationalität einerseits gestalterisch zum Bezugsrahmen seines Schaffens machte, andererseits auf inhaltlicher Ebene durchbrach.
Daran anschließend stieg die Gesellschaft immer tiefer hinab in die „Kunstgewölbe“ des Museums, um unter anderem Ensors Maskenmotive zu entdecken, welche unbewusste gesellschaftliche und politische Problemlagen offenlegten: Das Gemälde zweier Totenköpfe, die sich um ein Stück Fleisch streiten, wirft einige Fragen angesichts damaliger politisch-gesellschaftlicher Konfliktherde auf. Eine ähnliche gesellschaftsdiagnostische Absicht transportierte Fernand Khnopffs Bild von der Sphinx. Nicht zuletzt zeigte sich die Verbindung von belgischer Kunst und Architektur anhand zahlreicher detailreich ausgearbeiteter Möbelstücke, die ähnlich wie in einem heutigen Möbelhaus platziert waren, wodurch eine Vorausdeutung auf spätere Stile wie der Bauhauskunst impliziert wurde. Vielsagend und vieldeutig, endete dieser Museumsbesuch mit einigen subjektiv wirkenden Baumdarstellungen, die an Spilliaerts Gemälde in Ostende erinnerten, und mit beeindruckenden Skulpturen von George Minne.
So schloss sich der Kreis und die Studierenden hatten einen profunden Überblick über die künstlerische Entwicklung Belgiens in der Moderne erhalten. Augenfällig wurde hierbei insbesondere die kulturelle Vermittlerrolle zwischen verschiedenen internationalen Kunstströmungen. Als kunsthistorischen Kontext aller Gemälde könnte daher der rege Austausch international-kultureller Eigenarten in Belgien gesehen werden, den viele Bilder konkretisierten. Hiermit verhält es sich wie mit einer Buchhandlung, die unweit des Genter Bahnhofs gelegen war: Nach einem Eingangsbereich voller französischer Texte stand der Besucher vor Regalen deutschsprachiger Texte, um einige Schritte weiter niederländischsprachige und englische Literatur vorzufinden. So erscheint es den Reisenden, die in Belgien zu Gast sind.