„Ostbelgien im Fokus“: Unter diesem Motto stand der siebte Belgientag, zu dem das Belgienzentrum am 10. Mai 2023 einlud. Hochrangige Gäste aus Politik, Wissenschaft und Kunst traten an der Universität und in der Innenstadt von Paderborn in einen lebendigen und fruchtbaren Austausch. Am Vormittag wurden an der Universität steuerpolitische und interkulturelle Fragestellungen aus wissenschaftlicher und politischer Perspektive engagiert diskutiert. In der ersten Programmhälfte wurden außerdem die Sieger*innen des diesjährigen Schulwettbewerbs und ihre Beiträge vorgestellt. Ab dem frühen Nachmittag konnten interessierte Bürger*innen im Paderborner Rathaus an einer Diskussion zwischen Herrn Bürgermeister Michael Dreier, dem Ministerpräsidenten Ostbelgiens Oliver Paasch, der Universitätspräsidentin Birgitt Riegraf und dem Generalsekretär der Benelux-Union Frans Weekers teilnehmen. Parallel fand im Gymnasium Theodorianum ein hochkarätiges Kulturprogramm mit der Spoken-Word-Künstlerin Jessy James LaFleur und dem Comickünstler Flix statt, das am Abend mit einer Talkrunde mit beiden Künstler*innen ausklang. Der nachfolgende Bericht gibt einen Überblick über wichtige Inhalte der verschiedenen Veranstaltungen.
In seinem einleitenden Beitrag zum Vormittagsprogramm plädierte Oliver Paasch, der Ministerpräsent der deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens, für eine höhere Sichtbarkeit Ostbelgiens in Deutschland und hob hierzu die bereits bestehenden Verbindungen und Abkommen hervor. Daran anknüpfend wurde in der Begrüßungsrede von Prof. Dr. Sabine Schmitz, der Leiterin des Belgienzentrums, die wichtige Mittlerrolle Ostbelgiens zwischen Deutschland und Belgien nach dem Zweiten Weltkrieg betont. Vizegeneralsekretär Michel-Etienne Tilemans stellte die Benelux-Union vor, die seit diesem Belgientag noch enger mit der Universität Paderborn zusammenarbeitet. Er erläuterte, dass die trinationale Organisation vielfach auch als jüngere Schwester der EU bezeichnet werde, da sie sich in EU-Schlüsselbereichen wie Gesundheit, Digitalisierung und Klima eng abstimme und auch praktisch in diesen Feldern auf der Grundlage bereits erarbeiteter Vereinbarungen gemeinsam agiere. Des Weiteren erläuterte der Vizesekretär, dass die Benelux-Union für den neuen Masterstudiengang „BeNeLux-Studien“ der Universität Paderborn exklusive Praktikumsplätze anbiete und damit verbunden die einmalige Möglichkeit bestehe, den Beneluxraum aus einer komplexen beruflichen Praxis kennenzulernen und sich zugleich sehr gute Einblicke in die enge Verbindung des Kulturraums mit der Europäischen Union direkt an ihrem Sitz in Brüssel zu verschaffen. Im Anschluss an den Vormittag fand in der Belgienleselounge die offizielle Unterzeichnung der Vereinbarung hinsichtlich dieser Praktika statt. Für die Universität Paderborn nahm Frau Universitätspräsidentin Birgitt Riegraf die Unterzeichnung vor und für die Benelux-Union unterschrieb der Generalsekretär der Benelux-Union, Frans Weekers, den Vertrag.
In den Panels am Vormittag standen Fragen der Steuergerechtigkeit in Belgien und des grenzüberschreitenden Zusammenlebens innerhalb des Beneluxraums aber auch bilateral mit seinen Nachbarn im Fokus. Hierzu waren für die beiden Gesprächsrunden hochkarätige Wissenschaftler*innen, NGO-Vertreter*innen und Politiker*innen angereist. Einige der erläuterten Fragen lauteten: Welche Bedeutung hat Ostbelgien für uns heute? Welche steuerlichen Kooperationen lassen sich ausloten? Wie betrachten wir heute die Grenzen angesichts der gemeinsamen Zusammenarbeit?
In dem von Dr. Simon Watteyne von der Université Libre de Bruxelles geleiteten Panel über Steuergerechtigkeit hob Prof. Dr. Caren Sureth-Sloane (Universität Paderborn) spezifische Elemente der belgischen Steuerpolitik hervor und verwies zudem auf die überproportionale Komplexität des Systems. Daran anknüpfend ging Prof. Dr. Korinna Schönhärl (Universität Paderborn) auf die historischen Bedingungen ein, unter denen das steuerliche System entstanden sei. Des Weiteren skizzierte Prof. Dr. Behrendt (Universität Lüttich) die essentielle Rolle der Benelux-Union im Kontext von internationalen steuerlichen Kooperationen. Frans Weekers, Generalsekretär der Benelux-Union, rückte die instanzenvermittelnde Tätigkeit der Benelux-Union in den Fokus. Weitere wiederkehrende Themen in den lehrreichen Beiträgen waren Steuergerechtigkeit und Probleme der Steuerhinterziehung. Insbesondere diese Themenfelder wurden aus verschiedenen Perspektiven detailliert beleuchtet. Cécile Cornet, Mitglied des belgischen Parlaments für die Partei Ecolo, legte dezidiert die demokratiefördernde Bedeutung eines sozial gerechten und ethisch reflektierten Steuersystems dar. Julien Desiderio (Politikberater OXFAM Belgium) nannte darüber hinaus die Schließung steuerpolitischer Nischen als Möglichkeit für mehr gesellschaftliche Solidarität.
Nach dieser erkenntnisreichen Debatte widmete sich die zweite Diskussionsrunde der Frage nach der Beschaffenheit kultureller, linguistischer und nationaler Grenzen. Einleitend unterschied die Moderatorin Dr. Uta Loeckx (Verbindungsbeamtin des Landes Nordrhein-Westfalen bei der Benelux-Union) zwischen staatlichen und interkulturellen Grenzziehungen und betrachtete die Grenze als paradigmatisches Moment, das kulturelle Vielfalt und friedliche Koexistenz überhaupt erst ermögliche. Oliver Paasch, Ministerpräsident der deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens, plädierte für eine ähnliche Perspektive, indem er hervorhob, dass nicht das Trennende der Grenzen im Fokus seiner politischen Tätigkeit stehe, sondern die durch sie ermöglichten wechselseitigen Verflechtungen souveräner Kulturen. Darüber hinaus verstand Nic Van der Marliere, Generaldelegierter Flanderns in Deutschland, Grenzen als dynamisch und im Hinblick auf globale Herausforderungen kennzeichnete er grenzüberschreitende Zusammenarbeit als Wegweiser in die Zukunft. Des Weiteren brachte Hellmuth Van Berlo, Senior Adviseur der Taalunie, eine linguistische Sichtweise in die Diskussion ein, indem er beispielhaft hierfür auf die Wichtigkeit der Kenntnisse über die sprachlichen Unterschiede zwischen dem Niederländischen und Flämischen einging. Überdies argumentierte Prof. Dr. Sabine Schmitz, Leiterin des Belgienzentrums, dass insbesondere die Verflechtung verschiedener Kulturen in einem Land dafür geeignet seien, nationale Essentialismen aufzubrechen. Dass dies in Belgien vorbildhaft gelinge, arbeitete Oliver Paasch heraus.
Die Frage nach den Grenzen im Kopf stand ebenfalls im Fokus, als die Preisverleihung des diesjährigen Schulwettbewerbs des Belgienzentrums erfolgte. Schüler*innen der Fächer Niederländisch und Französisch der Bundesländer Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen reflektierten in selbst verfassten, fremdsprachlichen und häufig humorvollen Liedern wechselseitige Stereotype, die in den Köpfen der Bewohner*innen von Flandern und den Niederlanden bzw. Wallonien und Frankreich existieren: Was denken Menschen aus der Wallonie über Menschen in Frankreich? Was denken Menschen aus den Niederlanden über Menschen in Flandern? In der Kategorie „Französisch“ freut sich das Deutzer Gymnasium in Köln auf einen Atelierworkshop mit der Spoken-Word-Künstlerin Jessy James LaFleur, die in den Sprachen Französisch, Deutsch und Niederländisch sowie in der gesamten Welt zu Hause ist. In der Gruppe der Niederländischlernenden gewann das Teletta-Groß-Gymnasium in Leer einen Workshop mit dem Antwerpener Singer-Songwriter Simon.
Nach einer Mittagspause mit belgischem Menü verlagerte sich das Belgientagprogramm in die Paderborner Innenstadt: Im Rathaussaal gab es eine dritte Diskussionsrunde. Hier stand die grenzüberschreitende Zusammenarbeit im Mittelpunkt. In diesem Zusammenhang wurde z.B. die Rolle des Belgienzentrums in diesem Themenkontext genauso beleuchtet, wie die grenzüberschreitende Bewältigung der Pandemie und Zukunftsperspektiven in Hinblick auf grenzüberschreitende Berufsausbildung, Sicherheits- und Gesundheitspolitik. Herr Bürgermeister Dreier schilderte eindrucksvoll die Relevanz dieser Themenbereiche für die Stadt Paderborn. Vor dem Rathaus bot sich mit dem Ostbelgienmobil zudem seit den Mittagstunden Passant*innen nicht nur die Möglichkeit kulinarische Einblicke in diese wichtige Nachbarregion Nordrhein-Westfalens zu erlangen, sondern sich auch im Gespräch über ihre Besonderheiten, touristische Bedeutung und Zukunftsprojekte der deutschsprachigen Gemeinschaft zu informieren. Parallel eröffnete der Vertreter Ostbelgiens in Berlin, Herr Botschaftsrat Alexander Homann im Gymnasium Theodorianum gemeinsam mit der Schulleiterin Frau Nicole Michaelis die von Ostbelgien geförderten kulturellen Veranstaltungen im „Theo“, welche gut besucht und lebendig ausgestaltet waren. Der stellvertretende Schulleiter Herr Ulrich von Schwartzenberg stellte auf einer Informationstafel die im Herbst geplante Radrundreise durch Ostbelgien vor und erhielt von Herrn Homann hierfür Kartenmaterial und weitere nützliche Dinge. Im humorvollen Dialog mit dem Publikum begeisterte dann die mehrsprachige Künstlerin Jessy James LaFleur zunächst mit eigenen Beiträgen, um dann Schüler*innen des Theodorianums das Wort zu übergeben, die sehr eindrückliche eigene, zuvor mit ihr in einem Workshop erarbeitete Beiträge vorstellten. Die poetische Schönheit des gesprochenen Wortes und seine Kraft interkulturelle Begegnung zu ermöglichen, wurden sehr lebendig und greifbar. Auch der Comickünstler Flix vermittelte in einer Lesung spannende Einsichten in seine vielfältigen Comics, zu denen kreative Interpretationen literarischer Klassiker wie „Don Quijote“ und Goethes „Faust“, sowie das „Humboldttier“ gehören – letzteres ist eine wunderbare Interpretation der bekannten belgischen Comicfigur Marsupilami, die er als bisher einziger deutscher Künstler zeichnen und in einer Geschichte verwenden durfte. Zuvor war ihm bereits die Ehre zuteil geworden, die bekannte belgische Comicfigur Spirou zu zeichnen, die er in seinem Album „Spirou in Berlin“ eine spannende deutsch-deutsche Grenzerfahrung erleben lässt. Anschließend freuten sich viele Besucher*innen verschiedenster Altersstufen über eine Signierstunde mit dem faszinierenden Zeichner.
Schließlich rundete eine abendliche Gesprächsrunde mit Jessy James LaFleur und Flix, die zugleich eine Veranstaltung der Paderborner Europa Vorlesungen war, zum Thema „Europäische Dialogkulturen: Produktive Grenzüberschreitungen“ den siebten Belgientag ab. Dieser von Herrn Prof. Dr. Andreas Marchetti und Frau Prof. Dr. Sabine Schmitz moderierte anregende Dialog, der direkt an die vormittägliche Diskussionen anschloss, erstreckte sich bis weit in den Abend: Besonders die spannenden Einblicke in Flix’ Arbeit als Comiczeichner und die künstlerischen Vorträge von Jessy James LaFleur werden noch lange im Gedächtnis bleiben. Die weitere Signierstunde und die vielen Gespräche bei Häppchen und belgischem Bier rundeten den Belgientag ab. Das Belgienzentrum bedankt sich bei allen Mitwirkenden, Organisator*innen und Gästen für ihre aktive Teilnahme und das große Interesse!
Die Integralaufnahmen der Debatten können Sie jetzt auf dem BelgienNet sehen.