Kom­pu­ter und Kuh - Di­gi­tal­ge­schich­te der deut­schen Land­wirt­schaft im An­thro­po­zän (Dr. Mar­tin Schmitt)

Ort: E0.143

„Digitalisierung in der Landwirtschaft“ klingt auf den ersten Blick paradox: handelte es sich hier nicht um einen Sektor, der fern aller Fortschrittlichkeit lag? In Westdeutschland sank der Anteil der in der Landwirtschaft tätigen Personen von 24,6% im Jahr 1950 auf 3,5% im Jahr 1990; in der DDR sank er von rund 33% auf 12%. Im gleichen Zeitraum erlebte die Tierhaltung jedoch eine enorme Produktivitätssteigerung, die mit der Einführung der EDV zusammenfiel. In dem Vortrag, der auf einem gemeinsamen Artikel mit Prof. Dr. Veronika Settele (Berlin/Bremen) beruht, spüren wir der Frage nach, wie sich Computer und digitale Informationstechnologien auf die Arbeit und das tägliche Leben in der Landwirtschaft am Beispiel der Viehwirtschaft ausgewirkt haben. Im ersten Teil wird das Aufkommen von Lochkarten- und Großrechnern ab etwa 1960 als Beginn der Digitalisierung der Tierzucht in den beiden deutschen Bundesländern untersucht. Diese Computer wurden von Verbänden oder vom Staat angeschafft, um die Milchleistung von Kühen auszuwerten, den genetischen Wert ihrer Väter zu bestimmen - und damit, ob ihr Samen für die weitere Zucht verwendet werden sollten. Der zweite Teil wendet sich dann dem zu, was heute als „Precision Lifestock Farming“ bekannt ist: die Datenverarbeitung im Stall, die seit den 1980er Jahren auf breiter Front zunahm. Agrarwissenschaftler*innen entwickelten Computer- und Netzwerklösungen, um die menschliche Arbeitsbelastung zu verringern und gleichzeitig den wirtschaftlichen Ertrag und die Leistung der Tiere zu optimieren, zunächst durch RFID-Tracking, automatische Messungen und individualisierte oder kollektivierte Futterrationen. Wir argumentieren, dass die Einführung der EDV die Fortschrittserwartungen in der Landwirtschaft während der gesamten zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts und bis in die Gegenwart stabilisiert hat, wenn auch bis 1989 mit einer Unterscheidung zwischen West- und Ostdeutschland. Die Computerisierungsbemühungen in der Landwirtschaft in beiden deutschen Staaten waren Teil des größeren Prozesses der immer tieferen Eingriffe des Menschen in die Umwelt im Anthropozän durch digitale Technologien.

Der Vortrag findet im Rahmen der Ringvorlesung der Arbeitsbereiche NNG und ZG im Raum E0.143 statt. Insgesamt acht Historiker*innen geben uns Einblicke in ihre laufenden Forschungsprojekte. Alle an Geschichte Interessierten sind zum Zuhören und Mitdiskutieren jederzeit willkommen.