Kul­tur­to­po­graph­i­en

Die Ausbildung von theatralen Schauplätzen lässt sich bereits im 16. Jahrhundert festhalten, sie gewinnt indes ab dem 17. Jahrhundert nochmals deutlich an Dynamik. Zu beachten ist hierbei zum einen, dass erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts davon ausgegangen werden kann, dass feste Theaterensembles an fest installierten Bühnen in bestimmten Städten vorhanden sind, doch ist diese Institutionalisierung des Theaters bis weit in die Frühaufklärung eher die Ausnahme als die Regel (> Rahmenbedingungen des Theaters). So sieht sich etwa Johann Christoph Gottsched noch in den 1740er Jahren mit der Situation konfrontiert, dass die Handelsstadt Leipzig über keine feste Bühne verfügt, vielmehr auf die Aufführungen von Theatertruppen angewiesen ist, deren schauspielerische Qualität genauso schwankend ist wie die Qualität der aufgeführten Dramen. Gleichermaßen ist zu bedenken, dass insbesondere im 16. Jahrhundert, aber auch noch im 17. und 18. Jahrhundert Liebhaberbühnen eine bedeutende Rolle für die Aufführung von Dramen spielen, wobei diese Liebhaber eine doppelten Amateurstatus haben: Sie sind Liebhaber des Theaters, insofern sie eigentlich – durchaus hochstehende – Höflinge an einem spezifischen Hof sind und in den Zeiten der Muße Dramen zur Aufführung bringen, wie auch umgekehrt die Autoren dieser Dramen als Amateure zu bezeichnen sind, da sie zum allgemeinen Vergnügen des jeweiligen Hofes und damit verbunden zu dessen Repräsentation nach innen und vor allem nach außen maßgeblich beitragen. Versucht man diese Gemengelage zu systematisieren, lassen sich mehrere Momente namhaft machen, die zum Teil in deutlichem Gegensatz zu unserer heutigen Theatererfahrung stehen.

Die kulturpolitische Bedeutung des Theaters für die Repräsentation eines spezifischen Hofes führt dazu, dass zwischen einer internen Distinktion und einer externen Differenz unterschieden werden kann: Innerhalb eines Kulturraums unterscheiden sich die einzelnen Höfe resp. Schauplätze dadurch, dass sie unterschiedliche Schwerpunkte setzen, die etwa die Wahl einer Gattung und/oder einer kulturpolitischen Modellierung betreffend. Dies zeigt sich im 16. Jahrhundert etwa an der Konkurrenz der Bühnen von Ferrara, Mantua und Rom oder im 18. Jahrhundert, nach der Etablierung der Oper, an der Diversifizierung der Bühnen, insofern etwa in Hamburg zunächst die Oper dominiert, während sich Leipzig als Zentrum der Literaturtheorie etabliert und zeitgleich zahlreiche Höfe, wie die Welfenhöfe Hannover, Wolfenbüttel und Blankenburg zu je spezifischen Schauplätzen werden, wobei dem neu gegründeten königlichen Theater in Kopenhagen und der ebenfalls neu gegründeten Wiener Schaubühne eine mehrfache Sonderstellung zukommt. Diese internen feinen Unterschiede der Schauplätze produzieren indes klare Differenzen, wenn es um die Abgrenzung zu anderen Kulturräumen geht. Einfacher gesagt: Vor der Grundlegung von Nationaltheatern im späten 18. und frühen 19 Jahrhundert bilden sich Kulturräume aus, die von einem je eigenen Kulturpatriotismus geprägt werden, die einerseits auf Absetzung gegenüber anderen Kulturräumen abzielen, andererseits aber den Austausch mit anderen Kulturräumen und damit verbunden die produktive Aneignung im Rahmen von > Theatertransfers über die Grenzen hinweg privilegieren. Diese Internationalität des frühmodernen Theaters führt Konkurrenz und Austausch über zahlreiche Theatertransfers produktiv zusammen, so dass sich eine europäische Kulturtopographie herausbildet, die jedem Schauplatz eine spezifische Position zuweist, auch wenn es gilt diese, diese jede Saison aufs Neue zu bestätigen, wie sie auch die Möglichkeit mit jeder neuen Saison sich ein neues Profil zu geben.

Charakteristisch hierfür ist zunächst einmal, dass im Rahmen der so genannten Kavalierstouren zahlreiche Adelige beiderlei Geschlechts ihre Reiserouten so planten, dass sie, je nach persönlicher Vorliebe und Spielplan der jeweiligen Schauplätze, möglichst die jeweiligen Highlights der Saison zu sehen bekamen. Man fuhr als Opernliebhaber wahlweise nach Venedig oder Neapel, wenn man nicht die Oper in London oder Paris bevorzugte, als Freund der Komödie ging man nach London, Paris oder Venedig etc. etc. Dieser adelige ‚Theatertourismus‘ führte zudem dazu, dass auf dem Rückweg Libretti oder Dramentexte mit ins Gepäck genommen wurde, es konnte aber auch dazu kommen, dass Schauspieler oder Musiker für den eigenen Hof angeworben wurden, wenn nicht gar Komponisten oder Theaterdichter an den eigenen Hof geholt wurden, um eine eigene Bühne im Sinne der höfischen Statusökonomie neu zu begründen oder aber diese weiter zu profilieren – noch die Einladung von Johann Elias Schlegel nach Kopenhagen Mitte des 18. Jahrhunderts zeugt hiervon genauso wie diejenige von Gotthold Ephraim Lessing wenig später nach Wolfenbüttel.

Ein Rückkopplungseffekt dieser Theatertransfers besteht darin, dass in der Frühmoderne zwischen Schauplätzen und Kulturpatriotismen eine systematische Differenz besteht, die sich in der konkreten Realität indes anders gestaltet, als wir es heute gewohnt sind. Der bedeutendste Schauplatz des italienischen Theaters in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts war Venedig, so dass Schauplatz, Kulturpolitik und Kulturpatriotismus eine kohärente Einheit bilden. Ein fast gleichbedeutender Schauplatz des italienischen Theaters war hingegen die Comédie-Italienne mit Sitz in Paris, die von einem, wenn nicht dem bedeutendsten Regisseur, Dramendichter und Theatertheoretiker der italienischen Aufklärung geleitet wurde, nämlich Luigi Riccoboni. Auf diese Weise konkurrieren in Paris gleichzeitig die 1681 gegründete Comédie-Française und die 1715 etablierte Comédie-Italienne um die Gunst des Publikums, indem sie zwei unterschiedliche Theaterkulturen an einem Schauplatz, der Stadt Paris, auf die Bühne bringen.

Die frühmodernen Theaterkulturen zeichnen sich dementsprechend gerade nicht dadurch aus, dass je eigene Nationaltheater entstehen, die dem Charakter und der Kultur der jeweiligen Nation entsprechend ein Theater etablieren und dabei latent auf Abschluss nach außen zielen. Vielmehr bildet sich eine Kulturtopographie aus, die das Miteinander und den Austausch in das Zentrum setzt, so dass wahlweise einzelne Schauplätze dadurch charakterisiert werden, dass sie eine klar konkurrierte Theaterkultur in Szene setzt, oder aber Schauplätze sich dadurch auszeichnen, dass sie das produktive Mit- und Gegeneinander an einem Ort zusammenführen, wie dies etwa in Paris mit der Comédie-Française und der Comédie-Italienne gegeben ist oder in Venedig mit dem Miteinander von Oper, Komödie und Tragödie in mehreren konkurrierenden Theaterhäusern.

Schauplatz Par­is

Spricht man heutzutage vom französischen Theater der Frühmoderne, nimmt man fast ausnahmslos dasjenige Theater in den Blick, das am Schauplatz Paris auf die Bühne gebracht wurde. Hierdurch wird indes zum einen das Theater der französischen Provinzen vollkommen aus Acht gelassen, das erst in jüngster Zeit von der Forschung bedacht wird. Zum anderen, und vielleicht noch wichtiger, wird das französische Theater auf wenige Autoren reduziert, um nicht zu sagen auf ausgewählte Dramen der Autoren Pierre Corneille, Jean Racine und Molière. Die Konsequenzen sind oftmals bedeutend, insofern weder die zeitgenössischen Querelles, in die diese Dramen eingebunden waren, ausreichend beachtet werden, so dass zeitgenössische Gegenspieler und Alternativmodelle aus dem Blick geraten, noch die Transformationen der jeweiligen Gattungen und Genres im Laufe des Jahrhunderts adäquat berücksichtigt werden. Gerade die heute noch verwendete, bereits im 17. Jahrhundert geprägte Formel von la cour et la ville verdeutlicht die zugrundeliegende Problematik, da die hiermit suggerierte Einheitlichkeit von Hof und Stadt in keiner Weise gegeben ist; das Gegenteil ist vielmehr der Fall.

Bis zur Mitte des 17. Jahrhundert befindet sich der eigentliche Hof, d.h. das politische Machzentrum Frankreichs, in Paris, so dass la cour und la ville vorderhand an einem Ort zusammenkommen. Allerdings gilt es hierbei zu bedenken, dass das Schloss von Fontainebleau, der angestammte Königssitz, nur seine politische Bedeutung eingebüßt hat, er indes weiterhin als kulturelles Zentrum wichtig ist. Der Hof ist entsprechend keineswegs an einen einzigen Ort gebunden, vielmehr ist eine Konfiguration von mehreren Höfen festzuhalten, die zusammen la cour bilden und an denen, was entscheidend ist, das Theater eine je eigene Bühne erhält, wie zahlreiche Uraufführung vor dem höfischen Publikum vor Augen führen. Mit dem Amtsantritt von Louis XIV ändert sich diese Konstellation, insofern mit dem Schloss Versailles ein kulturelles Zentrum entsteht, das nicht nur für die höfischen Divertissements den Schauplatz bildet, in die zahlreiche Dramen eingebunden sind, sondern auch für viele theatrale Inszenierungen. Hierdurch verändert sich die Verbindung von la cour und la ville, da von nun ab der Hof eine deutliche Zweiteilung erfährt zwischen dem politischen Zentrum, dem Louvre, und dem kulturellen Zentrum, Versailles, wobei auch hierbei zu bedenken ist, dass Versailles der bedeutendste, aber keineswegs der einzige Schauplatz der französischen Theaterkultur ist in dieser Zeit. Diese Zeit des Premier Versailles endet mit dem endgültigen Umzug des Königs nach Versailles, der bereits seit 1677 geplant und dann 1682 umgesetzt wurde. Auf diese Weise wird der Hof nicht nur von Paris nach Versailles verlegt, sondern auch die Konstellation von la cour et la ville vollkommen neu gefasst: Das politische Zentrum Versailles steht nun dem kulturellen Zentrum Paris gegenüber, was noch dadurch deutlicher wird, dass 1681 die Comédie-Française vom König gegründet wird, wodurch Frankreich sein erstes Nationaltheater erhält.

Zu bedenken ist hierbei, dass die Comédie-Française als Schaubühne zwar einerseits maßgeblich zur Etablierung eines dezidiert französischen Theaters beiträgt, insofern es dieses institutionalisiert, andererseits aber diese Institutionalisierung sich viel offener gestaltet, als dies in der Retroperspektive zu vermuten wäre. Augenfällig wird dies bereits bei der Gestaltung von Theaterabenden, die meist aus der Zusammenstellung eines längeren Dramas und eines Einakters besteht, oder in der Kanonisierung von Autoren wie Pierre Corneille und Jean Rotrou, die jedoch für unterschiedliche Theatertraditionen einstehen. Hinzu kommt die Konkurrenz zwischen verschiedenen französischen Adelssitzen, die zum einen miteinander, zum anderen aber auch, zumindest bis zu einem gewissen Grad, mit dem König konkurrieren, indem sie ihre Höfe zu eigenen Schauplätzen stilisieren – zu denken ist etwa an Vaux-le-Vicomte oder Chantilly – oder aber in Paris eigene Theater installieren, wie die Comédie-Italienne als Konkurrenz zur Comédie-Française. Erst wenn man diese durchaus produktiven Konkurrenzen bedenkt, lassen sich die das ganze Jahrhundert prägenden Querelles adäquat verstehen und damit auch die Produktivität des Schauplatzes Paris und seiner umliegenden Orte wirklich rekonstruieren.

  • Steigerwald, Jörn: „La cour et la ville: Esquisse de la relation historique entre pratique sociale et esthétique au XVIIe siècle.“ In: Papers on French Seventeenth Century Literature XXXVIII, 75, 2011: La cour et la ville, S. 273–287.
  • Steigerwald, Jörn: „Der venezianische Karneval zwischen höfischer Festkultur und Lachkultur. Eine Problemskizze im Anschluss an den Theaterstreit zwischen Goldoni und Gozzi.“ In: Sabine Meine u.a. (Hg.): Musik und Vergnügen am Hohen Ufer. Fest- und Kulturtransfer zwischen Hannover und Venedig in der Frühen Neuzeit. Regensburg: Schnell & Steiner 2016, S. 61–73.
  • Steigerwald, Jörn: „Das Fest der Feste – die ‚Plaisirs de l'île enchantée‘ oder Versailles als Maßstab.“ In: Jahrbuch der Thüringer Schlösser und Gärten 23, 2020: Fürstliche Feste: Höfische Festkultur zwischen Zeremoniell und Amüsement, S. 20–31.