Theat­er­kul­turen

Das Projekt geht von zwei Beobachtungen aus, die für die Rekonstruktion der Herausbildung des europäischen Theaters in der Frühmoderne grundlegend sind und entwickelt darauf aufbauend die Arbeitshypothese, dass sich allmählich verschiedene, in Konkurrenz zueinander stehende, aber auch miteinander verbundene Schauplätze des Theaters herausbilden, die je eigene Modelle von Tragödie und Komödie sowie weiteren dramatischen Genres ausprägen. Hierbei gehen Institutionenpolitik, Familien- und Geschlechterpolitik als spezifische Formen der > Kulturpolitik eine produktive Verbindung ein und prägen zugleich eine ganz Europa umfassende > Kulturtopographie aus, so dass jeder Schauplatz sich gleichermaßen durch eine je eigene Kulturpolitik und eine damit einhergehende spezifische Theaterkultur auszeichnet, auch wenn bzw. gerade weil diese über verschiedene Ideale oder vorsichtiger formuliert: Denkfiguren wie dem Theater der Zärtlichkeit verbunden werden.

Festzuhalten ist zunächst einmal, dass sich das profane Theater seit dem Ende des 15. Jahrhunderts und dann verstärkt ab dem Beginn des 16. Jahrhundert insbesondere an den oberitalienischen Höfen entwickelt, bevor es zu einem europaweiten Phänomen wird. Dabei lässt sich von Anfang an eine spezifische Form des konkurrierenden Miteinanders der betreffenden Theaterkulturen beobachten, die auf zwei Ebenen abläuft. Zum einen wird eine theaterinterne Konkurrenz ersichtlich, die etwa in der Privilegierung spezifischer Autoren – seltener Autorinnen – oder bestimmter Gattungen wie der Tragödie oder der Komödie, aber auch der Oper mündet. Zum anderen tritt eine theaterexterne Konkurrenz vor Augen, die sich in der Bevorzugung jeweils anderer Formen der Literatur – Dialog, Roman, Epos – oder Künste – der Malerei, der Musik etc. – für die eigene höfische Repräsentation zeigt. Externe und interne Konkurrenz können indes durchaus an einem Schauplatz zusammenkommen, was insbesondere dann gegeben ist, wenn mehrere adelige Akteur*innen vorhanden sind, wie dies etwa in Rom oder Paris gegeben ist, die dann wiederum spezifische Künstler*innen und/oder Künste und/oder Kunstgattungen bevorzugen und entsprechend fördern. Entscheidend ist hierbei, so die leitende Überlegung des Projekts, dass das Theater der Frühmoderne ein integraler Bestand von Kulturpolitiken ist und zugleich die jeweilige Kulturpolitik in den betreffenden Theaterkulturen sozusagen auf die Bühne gebracht und – durchaus auch kritisch – durchgespielt wird.

Die Quer­elle du Cid als Ref­er­en­zmod­ell

Den Ausgangspunkt für die Projektarbeit im engeren Sinne, die sich auf die Theaterkulturen in Paris und Leipzig konzentriert und von dieser Basis ausgehend versucht, weitere Verstrebungen, etwa nach Kopenhagen oder Venedig sichtbar zu machen, bildet die Querelle du Cid (1637-1639), insofern diese schlaglichtartig das Zusammenspiel von Theaterkultur und Kulturpolitik evident werden lässt. 1635 veranlasst Kardinal Richelieu zum einen die Gründung der Académie française und zum anderen versammelt er fünf Autoren, um maßgeblich zur Herausbildung eines dezidiert französischen Theaters beizutragen, wenn nicht dieses allererst zu initiieren. Damit vollzieht er eine bedeutende Wendung gegenüber der zuvor dominanten Kulturpolitik Frankreichs, die noch in den 1620er Jahren von der Königin Maria de’ Medici getragen wurde und im Bereich der Literaturen das Epos, insbesondere den Dichter Giovan Battista Marino, förderte und im Bereich der Künste die Malerei bevorzugte. Dabei sind zwei Momente von besonderer Bedeutung: Der neue, von Richelieu etablierte Fokus auf das Theater ging nicht notwendigerweise damit einher, dass eine spezifische Gattung in den Mittelpunkt rückte und alle anderen Gattungen wahlweise ausgeschlossen oder zumindest auf die weiteren Plätze verwiesen wurden. Das Gegenteil ist vielmehr der Fall: Betrachtet man die Abfolge der Theatersaisons, dann erkennt man, dass etwa in der Saison 1634/1635 die Tragödie im Zentrum stand – Jean Mairets Sophonisbe und Pierre Corneilles Médée sind hier besonders zu nennen –, in der Saison 1635/1636 hingegen die Komödie, wie Corneilles Illusion comique verdeutlicht, bevor dann in der Saison 1636/1637 die Tragikomödie im Fokus steht, zu der auch Corneilles Cid zählt. Es kann folglich nicht von der bewussten Herausbildung oder gar in sich schlüssigen Entwicklung spezifischer Gattungen gesprochen werden, sondern von einem Durchspielen von Möglichkeiten theatraler Inszenierungen, das indes immer daran rückgebunden wird, eine dezidiert französische Theaterform zu finden, die klar konturierbar ist gegenüber den bislang dominierenden Theaterkulturen und -modellen italienischer und/oder spanischer Prägung. Dies geschieht dann auf grundlegende Weise im Rahmen der Querelle du Cid, die von Georges de Scudérys Observations sur le Cid ihren Ausgang nimmt und ihren einstweiligen Abschluss findet in den von Jean Chapelain verfassten Sentiments de l’Académie française. Mehrere Momente sind hierbei besonders festzuhalten:

Die Académie française konstituiert sich im eigentlichen Sinne über die Querelle du Cid, insofern sie zur maßgeblichen Institution erhoben wird, die über die Rahmenbedingungen und Regeln befindet, die für die Bewertung französischer Dichtungen zugrunde gelegt werden sollen. Zum anderen ist es das erklärte Anliegen der Académie française, französische Dichtungen, in diesem Fall: französische Tragödien zu beurteilen vor dem Hintergrund, dass sie einem dezidiert französischen Publikum gefallen, so dass es nicht um eine allgemeine Bestimmung dessen geht, was nachahmenswerte Dichtung per se auszeichnet, sondern um die Konturierung spezifisch französischer Gattungen und Genres. Das Ergebnis der Querelle du Cid besteht entsprechend in der Grundlegung der französischen > Liebestragödie, die erstmals die Liebe als handlungstreibendes Movens zu den bis dato fast ausschließlich dominierenden Staats- und Heldenhandlungen hinzunimmt und damit verbunden der ‚pitié‘, dem Mitleid, den Primat gegenüber dem ‚terreur‘, dem Schrecken bzw. Schauder zuordnet. Des Weiteren etablieren sich über die Querelle du Cid zwei systematisch zu unterscheidende Formen der Liebestragödie, die zunächst mit den Namen Pierre Corneille und Georges de Scudéry verbunden sind und sich als Familientragödie resp. Ehetragödie fassen lassen. Diese beiden Modellierungen der Liebestragödie werden zum einen von den beiden Autoren maßgeblich profiliert, sie werden aber auch von weiteren Dichtern wie Mairet oder Rotrou produktiv aufgegriffen, um eigene Modellierungen ergänzt und zugleich in den poetologischen Schriften der Zeit, etwa von La Mesnardière in dessen Poétique oder von Sarasin in dessen Discours de la tragédie kritisch reflektiert: Theaterpraxis und Dramentheorie arbeiten entsprechend zusammen, um eine französische Dramatik zu begründen.

Die Be­gründung der fran­zös­is­chen Liebestragödie

Die Herausbildung von spezifischen Theaterkulturen lässt sich paradigmatisch anhand der französischen > Liebestragödie nachvollziehen. Betrachtet man die Ausgangslage der Querelle du Cid, dann lassen sich einige Momente herausarbeiten, die für die Begründung der Liebestragödie entscheidend waren, aber auch für deren weitere Modellierungen im Laufe des Jahrhunderts. Festzuhalten ist zunächst einmal, dass bereits im Jahr 1635 zahlreiche Tragödien verschiedener Autoren aufgeführt wurden, bevor sich an der in der Saison 1636/1637 uraufgeführten tragi-comédie Le Cid von Pierre Corneille die gleichnamige Querelle entspannt. Die hiermit verbundene Differenz zwischen Tragödie und Tragikomödie ist nicht ohne Bedeutung, da hierdurch einerseits bestimmte poetologische Lizenzen möglich wurden, diese andererseits aber gerade Anlass zur eigentlichen Diskussion gaben. Grundlegend ist hierbei die Einführung der Liebe als tragendes Element der Handlung, so dass die tradierten Staats- und Heldenhandlungen um diejenigen Handlungen ergänzt werden, die um die Liebe zwischen den beiden tragenden Figuren Rodrigue und Chimème kreisen. Die aus dieser neuen dramatischen Konfiguration unmittelbar resultierende Frage lautete, in welchem Verhältnis die drei handlungstragenden Elemente zueinander stehen, wobei genauer zu fragen war, ob die Liebe gleichberechtigt neben die Staats- und Heldenhandlungen tritt oder diesen untergeordnet bleibt, womöglich aber sogar übergeordnet werden kann. Die damit verbundene, sich mittelbar anschließende Frage bezieht sich auf die spezifische Modellierung der Liebe, insofern die partnerschaftliche Liebe, die Vaterliebe, die Liebe zum Souverän und die Gottesliebe als je spezifische Formen der Liebe anzusehen sind, die sich, was entscheidend ist, keineswegs ausschließen, sondern selbst in verschiedenen Ordnungssystemen zusammenkommen. Corneilles Le Cid führt dies exemplarisch vor Augen: Rodrigue entscheidet sich für die Vaterliebe, wenn er zum Duell gegen Don Diègue antritt und gleichzeitig gegen die partnerschaftliche Liebe, da dieser der Vater seiner Verlobten Chimène ist. Hinzu kommt, dass er gegen die Liebe zum Souverän verstößt, insofern dieser ein Duellverbot erlassen hatte. Ein weiterer Diskussionspunkt betrifft die Differenz zwischen zwei Formen der Wahrscheinlichkeit, da zwischen einer historischen und einer mythologischen Wahrscheinlichkeit der Dichtung unterschieden werden kann. Die Wahl eines mythologischen Sujets ermöglicht resp. erfordert entsprechend einen anderen Umgang mit den betreffenden Handlungen als dies bei einem historischen Sujet gegeben ist, da mythologische Figuren nicht notwendigerweise menschliche Handlungen ausüben und entsprechend anderen Leidenschaften unterliegen: Während die maßlose Rache Medeas an ihrem treulosen Gatten Jason, der die eigenen Kinder zum Opfer fallen, über den betreffenden Mythos verbürgt und entsprechend als nachahmungswürdig anzusehen ist, da dieser bereits seit der Antike zahlreiche dramatische Inszenierungen erfahren hat, gilt dies nicht gleichermaßen für historische Handlungen und/oder Personen. Eine besondere Prominenz nehmen in diesem Zusammenhang die Heroides von Ovid ein, da diese ein, wenn nicht das Modell literarischer Liebesklage mythologischer und historischer Frauenfiguren darstellt, das für die dramatische Umsetzung in der Liebestragödie von nicht zu überschätzender Bedeutung ist, gerade weil dessen Bekanntheit beim zeitgenössischen Publikum vorausgesetzt werden konnte. Diese Einführung der Liebe in die Tragödie führt aber auch bzw. vor allem dazu, dass das moralische Verhalten der Figuren zur Diskussion gestellt wird, aber auch die Frage nach der Moral des profanen Theaters selbst im Raum steht, das gänzlich anderen Legitimationsbedürfnissen zu gehorchen hat, wie dies im Falle des sakralen Theaters gegeben ist. Dies betrifft etwa Fragen nach der Angemessenheit von Märtyrern als Tragödienfiguren jenseits des Märtyrerdramas, wie im Falle von Corneilles Polyeucte, oder die Frage nach der Verführung durch die Vorführung unmoralischen, wenn nicht gar obszönen Verhaltens, wie der als höchst problematisch angesehen Besuch Rodrigues bei Chimène im Hause von deren Vater nach dem Duell. Als Ergebnis der Querelle du Cid lassen sich folgende Punkte festhalten:

  • Sie konstituiert ein spezifisch französisches Tragödienmodell, nämlich die Liebestragödie, die klar unterscheidbar ist von anderen Tragödienmodellen in anderen Theaterkulturen.
  • Sie führt eine Binnendifferenz in die Liebestragödie ein, insofern sie die Ehetragödie Scudéry’scher Prägung von der Familientragödie Corneille’scher Prägung unterscheidet und konturiert dadurch einen Rahmen, der in der Folge immer wieder neu vermessen und mit neuen Modellierungen ausgefüllt wird.
  • Sie initiiert die Querelle sur la moralité du théâtre, die sich durch das ganz 17. Jahrhundert zieht und noch im 18. Jahrhundert, wenn auch zum Teil unter anderen Vorzeichen, weitergeführt wird.

Hervorhebenswert ist bei alledem, dass verschiedene Formen der Dichtung zusammenwirken, insofern sie wahlweise neue Modellierungen einer Gattung bzw. eines Genres erproben, wie dies etwa mit Marinos Epos Adone gegeben ist, oder versuchen, kulturstiftend zu wirken, indem sie eine Gründungsgeschichte der französischen Kultur erschreiben, die mit einer spezifischen Modellierung des zivilisierten Verhaltens einhergeht, wie dies in Honoré d’Urfés Schäferroman Astrée auf geradezu grundlegende Weise geschieht. Während dieses Zusammenspiel von romanesker und theatraler Praxis für die esthétique galante der 1650er bis 1670er Jahre mittlerweile umfänglich herausgearbeitet und insbesondere die Bedeutung der zentralen ‚tendresse‘, der Zärtlichkeit‘ für das zeitgenössische Theater in den Blick genommen wurde, fehlen dergleichen Studien bis dato für die 1680er bis 1710er Jahre, wie es auch für die 1630er und 1640er Jahre erst in Ansätzen Untersuchungen dazu gibt: Sowohl die Bedeutung der Astrée als auch diejenige von Georges und Madeleine de Scudérys Roman Le Grand Cyrus für die Theaterkulturen der Frühmoderne sind einerseits nicht zu überschätzen, werden andererseits aber bislang kaum beachtet.

(Profanes) Theater und (höfische) Kultur gehen entsprechend ein genauso schwieriges wie produktives Verhältnis ein, bei dem weder das eine auf das andere reagiert, sondern beide in einem reaktiven Verhältnis zueinanderstehen, dessen Ziel die Herausbildung eines Modells Frankreich ist. Dieses hat dann auch tatsächlich ab den 1670er Jahren, insbesondere um 1700 die Hegemonie in Kontinentaleuropa übernommen und ist gerade deswegen als hoch produktiv anzusehen, weil es quasi als Rückkopplungseffekt neue Konkurrenzen hervorbrachte, die nun wiederum auf das Modell Frankreich rekurrieren konnten, um die eigene Theaterkultur wahlweise daran auszurichten oder eben davon abzusetzen, in jedem Falle aber durch den Bezug darauf zu konturieren: Exemplarisch wird dies projektintern an den Theaterkulturen in Leipzig und in geringerem Maße auch in Kopenhagen und Venedig in den Blick genommen.