Das Modell der superpositio

Hendrik Schlieper

 

Die Vermittlung von Neuem ist in der Dramentheorie und in der dramatischen Praxis der Frühmoderne nicht ex nihilo denkbar, sondern (gattungs-)genealogisch eingebunden: Sie ist Ergebnis einer Nachahmung autoritativ begriffener Vorbilder – einer imitatio veterum bzw. imitatio auctorum –, die auf produktiven Wettstreit, Agon und aemulatio ausgerichtet ist. ‚Modernität‘ ist dementsprechend in der Frühmoderne nicht ohne ‚Anciennität‘ möglich: Die frühneuzeitliche Dramenproduktion ist auf die antiken Autoritäten angewiesen, um das eigentlich Neue bzw. die eigene historische Unverwechselbarkeit profilieren zu können.

Historisch gesehen werden das französische Theater im Allgemeinen und die französische Tragödie im Speziellen ab den 1630er Jahren systematisch in eine Kulturpolitik eingebunden, die initial mit Richelieu verbunden ist. Sie baut ein eigenes System kultureller Machtrepräsentation und -fabrikation auf, mit dem eine dezidiert französische civilisation begründet wird, die sich im Sinne der translatio an antiken Vorbildern ausrichtet und sich zugleich gegen konkurrierende zeitgenössische ‚Zivilisationen‘ – allen voran Italien, aber auch Spanien – profiliert. Erforderlich ist somit ein mehrdimensionales Verständnis von Drama und Theater, das imitatio, Kulturpolitik und Zivilisationsbegründung produktiv zusammendenkt.

Hierbei ist zu bedenken, dass die imitatio für ein frühneuzeitliches Drama legitimierende Funktion hat. So kann beispielsweise ein deutlich ausgestellter Rekurs auf Autoren von Tragödien (Sophokles, Euripides, Seneca), Epen (wie Vergils Aeneis, die auf gleicher Stillage mit der Tragödie verortet ist), Historiographien (Titus Livius, Plutarch) oder Poetiken (Aristoteles, Horaz) dazu dienen, die eigene Augenhöhe mit den antiken Vorbildern begreiflich zu machen. Referenzen auf jüngere Vorläufer und Vertreter anderer Gattungen, die eine Tragödie etwa in die prekäre Nähe der Gattung ‚Roman‘ rücken, können dagegen bewusst verschwiegen oder heruntergespielt werden. Daraus resultieren zwei Konsequenzen:

 

1. ‚Die‘ nachzuahmende Tradition ist in sich heterogen, und dies nicht nur in generischer Hinsicht, sondern auch in Hinblick auf die zeitliche (griechische und römische Antike, Goldene und Silberne Latinität) und kulturelle (Antike, Italien, Spanien) Provenienz. Die Frage nach der eigenen kulturellen Nähe und Distanz zu diesen Traditionen und Vorbildern ist für die französischen Dramenautor*innen des 17. Jahrhunderts vor dem Horizont der translatio und der konkreten politischen Gemengelage wesentlich.

 

2. In frühmodernen Tragödien lassen sich deutliche Differenzen erkennen zwischen programmatischer, paratextueller Positionierung und praktischer Umsetzung, d.h. zwischen der Sichtbarkeit bestimmter Vorbilder und deren tatsächlicher Gewichtung und Bedeutung für die jeweilige Tragödie.

 

Vor diesem Hintergrund lässt sich ein Modell für die französische Tragödie des 17. Jahrhunderts im Speziellen und für die französischen Dramen dieser Epoche im Allgemeinen skizzieren, in dem Referenzen auf konkrete auctores hierarchisch geschichtet werden. Die Schichtung und, hiermit verbunden, die Sichtbarkeit eines ‚Vorbilds‘ im Text ist dabei abhängig vom legitimierenden Potential, das ebendiesem Vorbild für die eigene Tragödienproduktion zugesprochen wird. In Analogie zu den etablierten Begriffen der imitatio und aemulatio bezeichne ich dieses Modell als superpositio, die begrifflich sowohl das konkrete Ergebnis (die Schichtung) als auch das dynamische, jeweils im Einzelfall zu bestimmende Verfahren (das Schichten) impliziert.

Um dies an einem konkreten Beispiel zu illustrieren: In der Spielzeit 1644/1645 bringt Pierre Corneille seine Tragödie Rodogune. Princesse des Parthes zur Uraufführung. Der 1647 publizierten Druckfassung stellt er einen „Appian Alexandrin au livre des Guerres de Syrie, sur la fin“ betitelten Text voran, in dem er nicht nur auf die Quellen, sondern auch wie folgt auf den Titel dieser Tragödie eingeht:

 

[...] je confesse ingénument que ce poème devait plutôt porter le nom de Cléopâtre, que de Rodogune; mais ce qui m’a fait user ainsi a été la peur que j’ai eue qu’à ce nom le peuple ne se laissât préoccuper des idées de cette fameuse et dernière reine d’Égypte, et ne confondît cette reine de Syrie avec elle, s’il l’entendait prononcer. C’est pour cette même raison que j’ai évité de le mêler dans mes vers, n’ayant jamais fait parler de cette seconde Médée que sous celui de la Reine; [...] (Pierre Corneille, Œuvres complètes, hg. von Georges Couton, Bd. 2, Paris: Gallimard, 1984, S. 194-198, hier S. 196f.).

 

Rodogune, so führt Corneille hier aus, sei titelgebend, um keine Verwechslung der Protagonistin Cléopâtre mit der gleichnamigen, ungleich bekannteren Ägypterin zu provozieren. So einleuchtend dieses Argument zunächst erscheint, so deutlich zeitigt es die Konsequenz, dass die Figurenkonzeption der hier verhandelten „Cléopâtre, reine de Syrie“ von der ägyptischen Kleopatra und deren Überlieferung unterlagert wird: Auch Corneilles Cléopâtre erweist sich als femme forte und dementsprechend handlungsbestimmende Figur: Sie verantwortet – „en haine de cette seconde femme Rodogune“ (ebd., S. 195) – den Mord an ihrem Ehemann Démétrius Nicanor und an ihrem ersten gemeinsamen Sohn Séleucus; hinzu kommt der scheiternde Mordversuch am zweiten gemeinsamen Sohn Antiochus, der seine Mutter schließlich zwingt, das für ihn vorgesehene Gift selbst zu trinken.

Nochmals aufschlussreicher ist Corneilles Titulierung der Figur Cléopâtres als „seconde Médée“, und dies aus drei Gründen:

 

1. Der historischen, mit dem im Titel des Paratexts ausgestellten Rekurs auf den griechisch-römischen Historiker Appian verbundenen Schicht ist eine mythologische Schicht unterlegt bzw. genauer: der antike Medea-Mythos bildet eine Schicht, die die Handlung und die Figurenkonzeption von Corneilles Tragödie unterlagert. Dementsprechend entfaltet der aus Eifersucht begangene Kindsmord der ‚Cléopâtre-Médée‘ eine eigene mythische Dimension, in der auch die übrigen Protagonisten von Corneilles Tragödie mit den entsprechenden Pendants des Medea-Mythos überblendet werden (Démétrius Nicanor mit Jason, Rodogune mit Kreusa).

Hierbei gilt es zugleich zu bedenken, dass die historische Schicht der Rodogune selbst heterogen ist. Der prominent gesetzte Rekurs auf Appian wird im weiteren Verlauf von Corneilles Argumentation ergänzt um Verweise auf den römischen Historiker Justin und dessen Epitome der Philippischen Geschichte des Pompeius Trogos und auf den jüdisch-hellenistischen Historiker Flavius Josephus und dessen Jüdische Altertümer, auf die Corneille mit Blick auf die politischen Hintergründe der Kriege in Syrien zurückgreift. Angeführt wird außerdem das alttestamentliche erste Buch der Makkabäer, so dass sich hier pagane Historiographie und biblisch-christliche Tradition sowie historiographische Traditionen unterschiedlicher kultureller (griechisch-römisch, römisch, jüdisch-hellenistisch) und zeitlicher (1. bis 3. Jahrhundert n. Chr.) Provenienz überlagern.

 

2. Corneilles „Médée“-Verweis macht darüber hinaus eine gattungshistorische Schicht sichtbar: In der Poetik des Aristoteles fungieren Euripides’ Medea im Allgemeinen und ihre weibliche Titelfigur im Besonderen als Sonderfälle der Gattung ‚Tragödie‘, die mit ihrer jeweiligen Wirkmächtigkeit gleichwohl einen entscheidenden Anteil daran haben, dass Aristoteles Euripides als den „tragischste[n] unter den Dichtern“ (Aristoteles, Poetik (Übersetzung Manfred Fuhrmann), 1453a) explizit hervorhebt. Dieser Einbezug der euripideischen Gattungstradition der Tragödie gewinnt dahingehend an Komplexität, dass Corneille im genannten Paratext seine Titelwahl mit Blick auf die Autorität der „anciens maîtres“ (ebd., S. 197) nochmals präziser begründet:

 

[...] j’ai remarqué parmi nos anciens maîtres qu’ils se sont fort peu mis en peine de donner à leurs poèmes le nom des héros qu’ils y faisaient paraître, et leur ont souvent fait porter celui des chœurs, qui ont encore bien moins de part de l’action que les personnages épisodiques comme Rodogune, témoin Les Trachiniennes de Sophocle, que nous n’aurions jamais voulu nommer autrement que La Mort d’Hercule (ebd.).

 

Die Begründung, mit Rodogune einen „personnage[] épisodique“ als Titelfigur anzuführen, führt mit dem Rekurs auf die Trachinierinnen eine zweite Schicht in Form der sophokleischen Gattungstradition der Tragödie ein. Zugleich bedingt die konkrete Referenz auf die Trachinierinnen, dass Corneilles Rodogune auch über die Handlung und Figurenkonzeption ebendieser konkreten Tragödie geschichtet wird: Im Zentrum beider Tragödien steht ein aus Eifersucht begangener Mord einer Frau am eigenen Gatten, und dementsprechend stellen sich hier Überlagerungen der Ehefrauen Cléopâtre (Corneille) und Deianeira (Sophokles), der Gatten Démétrius Nicanor und Herkules und der Rivalinnen Rodogune und Iole dar.

Eine besondere Pointe eignet dem zitierten Passus Corneilles zusätzlich dahingehend, dass der angeführte ‚eigentliche‘ Titel der Sophokles-Tragödie – La Mort d’Hercule – im zeitlichen Kontext der Publikation der Rodogune auch unweigerlich Rotrous Tragödie Hercule mourant aufruft, die ihrerseits die ‚Renaissance‘ der französischen Tragödie zu Beginn der 1630er Jahre mitgetragen hat und im Rahmen der Querelle du Cid als explizites Gegenmodell zu Corneilles Le Cid in Anschlag gebracht worden ist. Entscheidend ist hierbei, dass Rotrous Tragödie auf eine weitere Texttradition verweist, da über die Figure der Deianeira Ovids Heroides und die damit verbundene Tradition der Liebesklage aufgerufen wird. In der Rechtfertigung der Titelwahl der Rodogune wird so eine weitere gattungsgenealogische Schicht sichtbar, die Corneilles eigene – ebenso produktive wie agonistische – Auseinandersetzung mit der jungen französischen Tragödientradition einschließt.

 

3. Die „seconde Médée“ ist schließlich auch als Verweis auf Corneilles eigene Bearbeitung des Medea-Stoffes – seine „première Médée“ also – lesbar: Corneilles Tragödie Médée wird in der Theatersaison von 1634/1635 uraufgeführt und trägt somit ihrerseits die ‚Renaissance‘ dieser Gattung mit. Ihr charakteristisches Profil gewinnt Corneilles Médée in ihrer Gestaltung des Medea-Stoffes als dezidierte Liebestragödie: Die tragische Dreierkonstellation des antiken Mythos von Jason, Medea (Médée) und Kreusa (Créuse) erweitert Corneille zu einer chiastischen Viererkonstellation, indem er mit Égée eine Figur einführt, die mit Jason um die Liebe Créuses rivalisiert. Ebendiese Konstellation greift Corneille auch in Rodogune auf, um sie dahingehend zu potenzieren, dass die tragische Dreierkonstellation Démétrius Nicanor – Cléopâtre – Rodogune erweitert wird um die beiden Söhne Séleucus und Antiochus, die sowohl mit ihrem Vater als auch untereinander um die Liebe Rodogune rivalisieren und sich dergestalt gegen ihre Mutter Cléopâtre positionieren. Als Schicht erkennbar wird hier das vorangehende eigene Corneille’sche Tragödienwerk, mit dem Rodogune in produktive Auseinandersetzung tritt.

 

In der Gesamtschau wird für Rodogune somit ein Modell der superpositio sichtbar, in dem sich geschlechterhistorische, historiographische, mythologische und gattungsgenealogische Schichten in komplexer Weise überlagern und dergestalt der Tragödie Corneilles ihren charakteristischen literatur- und kulturhistorischen ‚Ort‘ geben. Ebendieses Modell der superpositio in der Rodogune stellt keinen Einzelfall dar; es ist ganz im Gegenteil symptomatisch für das französische Theater des 17. Jahrhunderts (und speziell für die ‚klassische‘ französische Tragödie), wie dies etwa Georges de Scudérys L’Amour tyrannique, Racines Phèdre oder Molières L’Avare auf je eigene Weise eindrucksvoll vor Augen stellen.

Hendrik Schlieper, Liebestragödie. Genealogien einer französischen Gattung des 17. Jahrhunderts, Habilitationsschrift Universität Paderborn 2023, ersch. Paderborn: Fink/Brill, 2024.