Hauskomödie

Jörn Steigerwald

Das Modell der Hauskomödie geht von der schlichten Beobachtung aus, dass die neuzeitliche Komödie in Italien und Frankreich seit ihrer Entstehung an das Konzept des ‚ganzen Hauses‘ gebunden ist. In den Hauskomödien werden zum einen die vermeintlichen und/oder realen Ansprüche der dezidiert männlichen Hausordnung kritisch reflektiert und zum andern die Positionen der einzelnen Mitglieder des ganzen Hauses – Hausvater, Hausmutter, Söhne, Töchter und Gesinde – zueinander, aber auch in Bezug auf andere Häuser und deren Hausordnungen problematisiert. Dabei wird das ganze Haus stets als Bestandteil eines übergeordneten sozialen Gemeinwesens angesehen, so dass die Inszenierung häuslicher Unordnung zugleich Rückschlüsse erlaubt auf den Zustand der jeweiligen Gesellschaft.

Zu Beginn des 16. Jahrhunderts entwickelt sich die frühneuzeitliche Komödie an verschiedenen oberitalienischen Höfen heraus, die bewusst als gelehrte Komödie, als commedia erudita präsentiert wurde. Als ‚gelehrt‘ wurde diese, grundlegend von Ludovico Ariosto konzipierte Komödie verstanden, weil sie einerseits auf den antiken Komödien des Plautus’ und Terenz’ aufbaute und entsprechend über einen schriftlich fixierten Text verfügte. Andererseits war sie im ‚volgare‘, d.h. auf Italienisch verfasst und zugleich als bewusste Reaktualisierung der antiken Komödien angelegt. Diese Reaktualisierung betrifft zum einen die Anbindung an die eigene, höfische Gesellschaft des Cinquecento und zum anderen die Konzentration auf ein spezifisches soziales Modell, nämlich das der ‚casa‘, d.h. des ‚ganzen Hauses‘. Bemerkenswert hierbei ist, dass die commedia erudita der commedia dell’arte historisch vorausgeht, es also keineswegs so ist, dass sich die geregelte Komödie aus der Stehgreifkomödie entwickelte; das Gegenteil ist vielmehr der Fall. Die Figur des Dieners Fessenio in Bibbienas commedia erudita La calandria wird allgemein als erste Figur angesehen, die aufgrund ihrer Improvisationen in der Komödie die Grundlage legte für die Herausentwicklung der italienischen Stehgreifkomödie.

Hierdurch wurden zwei maßgebliche konzeptionelle Entscheidungen getroffen, insofern die Komödie dem mittleren Stil zugeordnet und damit verbunden ein ständisches Personal in die Komödien eingeführt wurde. Das hatte wiederum zur Folge, dass dieses Figurenpersonal in seinem spezifischen sozialen Raum auf die Bühne gebracht wurde, was schlicht heißt, dass Haus und Familie von ständischen Bürgern in Szene gesetzt wurden. Für die Komödien der italienischen Renaissance lässt sich zudem festhalten, dass die häuslichen Handlungen bemerkenswerterweise nach außen gestülpt wurden, indem sie auf der Piazza verortet wurden, so dass von Anfang an das Problematische, weil Ungeordnete der männlich dominierten Hausordnung durch die Handlungen auf der Piazza vor Augen gestellt werden. Initiiert werden diese Handlungen wiederum von den Söhnen auswärtiger Hausväter, die durch ihr Eindringen in ein fremdes Haus auf mehrfache Weise dessen Ordnung gefährden, bis diese wieder durch die Hausväter restituiert wird. Dem ordnenden und ordnungsstiftenden Hausvater wird dementsprechend der fremde Sohn eines anderen, auswärtigen Hausvaters als Gefährdung gegenübergestellt, wobei sich die Gefährdung unmittelbar auf die Tochter (gelegentlich auch auf die Ehefrau) des jeweiligen Hauses richtet und mittelbar auf das Gesinde, insbesondere die Zofen und Ammen, als Einfallstellen für die moralische Unordnung des Hauses – etwa in Ariostos Komödien La casseria oder I suppositi.

Die französische Hauskomödie, die vor allem von Molière ab den 1660er Jahren auf die Bühne gebracht wurde, baut einerseits auf der commedia erudita auf, grenzt sich andererseits aber entschieden davon ab und reaktualisiert die Komödie erneut, nun aber unter den Bedingungen der französischen Gesellschaft von la cour et la ville. Zugleich führt er insbesondere in seinen Farcen die Tradition der Stehgreifkomödie fort, etwa in den Fourberies de Scapin, so dass er beide italienischen Traditionen der Theaterkultur, die commedia erudita und die commedia dell’arte für seine Zeit und seine Gesellschaft adaptiert, indem er sie auf unterschiedliche Weise zusammenführt. Molière übernimmt dabei den Fokus auf das Haus und die weiterhin männlich dominierte Hausordnung als Ort und Raum der Komödie, ändert indes die zugrunde liegende Problematik der Hausordnung, insofern nun der Hausvater selbst zur Gefährdung des eigenen Hauses beiträgt. Sichtbar wird dies in zweierlei Hinsicht: Wurde in der italienischen Hauskomödie die Unordnung des Hauses dadurch evident, dass sie auf die Piazza ausgetragen wurde, wird sie nun in das Haus selbst hineingetragen, weil das neue Haus nicht mehr abgeschlossen gegenüber anderen Häusern ist, sondern auf ein Miteinander der Häuser und vor allem auf einen geselligen Verkehr der Hausbewohner in den beteiligten Häusern setzt. Die Voraussetzung hierfür bildet ein Umbau im konkreten wie im übertragenen Sinn der Häuser und damit auch der Hausordnung, da seit den 1630er Jahren etwa Räume für ein geselliges Miteinander geschaffen wurden, in denen Männer und Frauen regelmäßig zusammentrafen und miteinander kommunizierten. Damit einhergehend wandelte sich auch die Rolle der Frauen in den Häusern: Sie wurden nun nicht mehr nach außen abgeschottet, sondern bewusst als Prestigeobjekte eines Hauses angesehen, das zu dessen kulturellen und/oder symbolischem Kapital beitrug. Entscheidend für die französische Hauskomödie ist die Umwandlung des Verhältnisses zwischen den Eltern, insbesondere dem Vater, und den Kindern. Denn der Hausvater wird nun als Gefährdung der eigenen Hausordnung angesehen, weil er sich wahlweise weigert, den sozialen Wandel mit zu vollziehen und entsprechend ein obsolet gewordenes Verständnis von Haus und Hausordnung leben will – wie dies exemplarisch in der Komödie L’École des femmes vorliegt. Oder der Hausvater missachtet willkürlich die tradierten Grenzen der Hausordnung und strebt nach Höherem, als ihm von Standes wegen zusteht – wie in den Komödien Le Bourgeois gentilhomme und Georges Dandin. Oder er versucht gar, eigene Regeln im sozialen Miteinander durchzusetzen, die weder dem Selbstverständnis der Galanterie noch den Konventionen von la cour et la ville entsprechen – wie in der Komödie Le Misanthrope.

In der Nachfolge von Molière wurde diese konzeptionelle Erweiterung der Hauskomödie genutzt, um Veränderungen an Systemstellen als Indikatoren für den sozialen Wandel in Szene zu setzen. Bemerkenswert ist hierbei etwa, dass der Hausvater in zahlreichen Komödien eine deutlich geschwächte Position innerhalb der häuslichen Machtordnung einnimmt, oder sogar gänzlich fehlt, so dass nun die Rolle und Funktion der Hausmutter in den Fokus rückt. Auf diese Weise werden Fragen nach dem Verhältnis von tradierter oiconomia und neuer Ökonomie genauso behandelt wie Fragen der Moral, etwa bezüglich der möglichen oder faktischen Gattenwahl einer Witwe, oder Fragen nach der Eigenständigkeit dieser Rolle in einer eigentlich weiterhin männlich dominierten Hausordnung. Ebenfalls vorhanden ist die Möglichkeit eines nicht-linearen Erbes, das vom Onkel auf den Neffen übergeht oder zumindest übergehen kann – wie in Jean-François Regnards Le Légataire universel. Dann stehen Fragen nach der Legitimität des Erbes genauso im Raum wie nach der moralischen oder sozialen Erblast bzw. dem Umgang mit dem Erbe unter den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen.

Entscheidend hierbei ist, dass es in Frankreich weder eine eindeutige Entwicklung der (Haus-)Komödie von Molière zu Marivaux gibt, wie sie in zahlreichen Literaturgeschichten zu finden ist, noch eine klar definierte Form der Nachfolge Molières, da dieser selbst höchst unterschiedliche Modellierungen der Hauskomödie vorgelegt hatte. Vielmehr muss im Anschluss an Molière von einer weiteren Diversifizierung des Modells der Hauskomödie gesprochen werden, die wahlweise durch den Plural Hauskomödien oder den Kollektivsingular Hauskomödie zum Ausdruck gebracht werden kann. Dies gilt umso mehr, wenn man die Aneignungen und Reaktualisierungen der Hauskomödie in der deutschen und italienischen Theaterkultur des 18. Jahrhunderts bedenkt, die einerseits die französischen Dramen produktiv aufgreifen, andererseits aber je eigene, den jeweiligen Schauplätzen entsprechende Hauskomödien ausbilden, etwa in Luise Adelgunde Victorie Gottscheds Komödien, und dabei neuerliche Konkurrenzen ausprägen können. Der berühmte Theaterstreit zwischen Carlo Goldini und Carlo Gozzi Mitte des 18. Jahrhunderts in Venedig steht hierfür paradigmatisch ein. 

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  • Steigerwald, Jörn: „Die Grenzen der Höflichkeit : Molières Le Misanthrope.“ In: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch 2012, S. 61–86.
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Verfasser

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Prof. Dr. Jörn Steigerwald

Komparatistik/Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft

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Zitationsvorschlag

Steigerwald, Jörn: „Hauskomödie.“ In: Website des Projekts „Theaterkulturen im klassischen Zeitalter“ des Fachbereichs Komparatistik/Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft der Universität Paderborn. Auf: go.upb.de/theaterkulturen_hauskomoedie, 06.05.2022.