Müt­ter­tragödie

Jörn Steigerwald

Die Mehrzahl der Tragödien in der Frühmoderne weist das eigentümliche Charakteristikum auf, dass in ihnen die Figur der Mutter entweder keine Rolle spielt oder sie sogar gänzlich fehlt, obwohl sich die Handlungen in einem dezidiert familiären Rahmen vollziehen. Der Fokus auf die Staats- und Heldenaktionen in den Trauerspielen befördert wahlweise die Konzentration der Handlung auf die männlichen Herrscher oder nimmt Fragen der Herrschaftsgenealogie in den Blick, so dass der Herrscher und der resp. die meist männliche(n) Nachfolger im Zentrum stehen. In den Müttertragödien wird zum einen komplementär dazu nach dem Verhältnis von Geschlecht, Macht und Politik gefragt und zum anderen nach der Bedeutung und Funktion der Mutter für die Aufrechterhaltung der Herrschergenealogie, gerade in den Fällen, in denen der männliche Herrscher abwesend ist.  

In den Studien zu Shakespeares Dramen ist die Besonderheit der mutterlosen Tragödie wiederholt untersucht und auf höchst unterschiedliche Weise gedeutet worden, doch handelt es sich hierbei keineswegs um eine Eigenheit des englischen Dramatikers. Ein Blick auf die Tragödien der 1630er und 1640er Jahre von Pierre Corneille führt etwa zu einem ähnlichen Ergebnis, da in den Dramen Le Cid, Horace und Polyeucte die Mütter gänzlich fehlen, während in der Tragödie Cinna die Figur der Livia vorzugsweise als Gattin, aber eben nicht als Mutter fungiert. Die Beispiele ließen sich leicht erweitern, so dass sich die Frage stellt, wie das mehrheitliche Fehlen der Mütterfiguren zu erklären ist, wie sich auch umgekehrt die Frage stellt, welche Bedeutung und vor allem welche Funktion den Mütterfiguren in denjenigen Dramen zugewiesen wird, in denen sie eine bedeutende Rolle einnehmen – von William Shakespeares Romeo and Juliet über Pierre Corneilles Rodogune und Jean Racines Andromaque bis hin zu Scipione Maffeis Merope. Gerade weil die Mütter zu denjenigen Figuren gehören, denen weder in den tradierten Tragödien, die sich auf Staats- und Heldenaktionen konzentrier(t)en, noch in den neuen Liebestragödien nach 1600 eine bedeutende Funktion zukommt, können sie als Indikatoren für grundlegende Veränderungen, wenn nicht gar (Er-)Neuerungen angesehen werden, die maßgeblich zur Problematisierung von Transformationsprozessen beitragen. Hierbei lassen sich mindestens vier Paradigmen der Müttertragödien festhalten, die auf je eigene Weise als Indikatoren kulturpolitischer Veränderungen zu fassen sind.

Die Mutter als fehlende Ordnungsstifterin in Haus und Familie

Gemäß der alteuropäischen Oiconomia stehen der Hausherr und die Hausherrin gemeinsam dem Haus vor und verwalten es zusammen, doch unterscheiden sie sich grundlegend hinsichtlich ihrer jeweiligen Aufgaben: Der Hausherr repräsentiert Haus und Familie nach außen und steht für den Fortbestand von Haus und Familie ein, wie er auch für deren Wohlergehen in der Gegenwart sorgt. Die Aufgabe der Hausherrin besteht demgegenüber darin, die Ordnung im Inneren von Haus und Familie sicherzustellen. Diese Ordnung betrifft vorzugsweise die Verwaltung des Hauses und die Kontrolle des Gesindes, doch schließt sie auch die Erziehung der Kinder der jeweiligen Familie, insbesondere diejenige der Töchter mit ein. Das Fehlen der Mutter in einer Tragödie kann vor diesem Hintergrund verstanden werden als ein Indikator für eine latente oder faktische Unordnung in der Familie, die gerade dann hervorbricht, wenn die Töchter im Rahmen der Handlung gefordert sind, ihre Emotionalität zu regulieren, was ohne die mütterliche Anleitung mindestens Probleme schafft, wenn sie nicht sogar die tragische Katastrophe herbeiführt. King Lears Liebestest am Beginn des gleichnamigen Dramas von Shakespeare markiert eine solche in mehrfacher Hinsicht in Unordnung geratene Haus- und Familienordnung. In Pierre Corneilles Tragödie Horace bildet wiederum Camilles Anklage ihres Bruders Horace, ihren Verlobten Curiace ermordet zu haben, den Ausgangspunkt für ihre Tötung durch diesen, da ihr Bruder vermeint, dass seine Schwester die Familienehre beschmutzt habe. Das Fehlen der Mutter markiert in dieser Hinsicht die latente Instabilität der familiären Ordnung im Inneren, die in der Tragödie vollends kollabiert und erst am Schluss auf Bitten des Hausvaters, des vieil Horace, durch den Schiedsspruch des Königs in Ansätzen restituiert wird. In beiden Fällen lässt das Fehlen der Mutter das problematische Verhältnis von Anspruch und Realität der rein väterlich verbürgten Haus- und Familienordnung zum Vorschein kommen, das nicht zuletzt deswegen in einer tragischen Katastrophe endet, weil die traditionell von der Mutter gewährleisteten Ordnung im Inneren gerade nicht gegeben ist und entsprechend eine Einbruchsstelle für die Tragödie bildet.

Die Mutter als Kritikerin der männlichen Haus- und Familienordnung

Die bekannteste Modellierung dieses Paradigmas der Muttertragödie sind seit der griechischen Antike die Medea-Tragödien, insofern in diesen die Ansprüche auf männliche Dominanz in der Familie und männliche Herrschaft im Staat auf grundlegende Weise problematisiert werden: Jasons Verstoß gegen das Ehegelübde, das er vor den Göttern abgelegt hat, ist hier genauso zu nennen wie sein Ansinnen, ein neues Königreich für sich zu gewinnen durch die Heirat mit der korinthischen Königstochter Kreusa, oder seine Pläne, die eigene Genealogie ohne die Mutter seiner Kinder fortzuführen. Die zentrale Denkfigur, die in diesen Beispielen immer wieder thematisiert wird, ist die tradierte Vaterliebe, die ausschließlich vom Vater auf die Söhne und vice versa gerichtet ist, und entsprechend die Mutter sowie die Töchter weitgehend ausschließt. Kennzeichnend für zahlreiche frühmodernen Müttertragödien ist, dass sie die Neuordnung von Haus, Familie und Ehe nach 1600 insofern problematisieren, als in ihnen die Frage nach der Bedeutung und Funktion des neuen Ideals der Zärtlichkeit – der tenderness, tendresse oder tenerezza – für die Vaterliebe in hohem Maße reflektiert wird. In vielen Fällen agiert die Mutter als spezifische Modellierung einer ‚starken Frau‘, einer ‚femme forte‘, insofern sie ihre Stärke nutzt, um die vermeintliche oder faktische Schwäche des Ehemanns auszustellen und dabei sogar den Untergang der eigenen Familie in Kauf nimmt. In Pierre Corneilles Tragödie Medée problematisiert die Protagonistin die Differenz zwischen der neuen, zärtlichen Vaterliebe und der vermeintlich fehlenden Mutterliebe, indem sie vollkommen logisch argumentiert, dass eine Tötung ihrer beiden Kinder nicht als Kindsmord zu werten sei, wenn diese gemäß dem Gesetzt seine und eben nicht ihre Kinder seien. Zugleich führt sie dem vermeintlichen père tendre Jason vor Augen, dass die tendresse nicht nur vom Vater auf die Kinder, sondern auch bzw. gerade auf den jeweiligen Partner gerichtet ist. In diesem Fall bildet die Muttertragödie die Grundlage für eine Familientragödie.

Die Mutter als Beschützerin der familiären und/oder herrschaftlichen Genealogie

Die Modellierung der ‚starken Frau‘ kann in den Tragödien als angemessen gefasst werden, wenn sie aufbauend auf der Poetik des Horaz an eine imitatio veterum, eine Nachahmung der alten, vorbildlichen Autoren gebunden ist, was insbesondere für die vielen Medea-Figuren gilt, die über die betreffenden Dramen von Euripides und Seneca legitimiert werden. Allerdings markieren die ‚starken Frauen‘ ein poetologisches Problem, wenn man versucht, sie in das Denksystem der aristotelischen Poetik zu integrieren. Denn Aristoteles argumentiert, dass Frauen zwar tüchtig sein können, es aber für sie nicht angemessen ist, tüchtig zu handeln, da dies allein Männern vorbehalten sei. Eine Lösung aus diesem Dilemma bietet die Modellierung der ‚guten Frau‘, die selbst nicht aktiv handelt, aber sehr wohl die Handlungen organisiert und dergestalt tüchtig und ihrem Geschlecht angemessen handelt. Exemplarisch steht hierfür die Figur der Merope in Scipione Maffeis gleichnamiger Tragödie ein, die nach der Ermordung ihres Gatten und zweier ihrer Söhne durch den Tyrannen den jüngsten Sohn ins Exil sendet, damit er dort unerkannt aufwachsen kann. Zum Manne gereift soll er dann in seine Heimat zurückkehren, den Tyrannen töten und selbst zum neuen Herrscher werden, so dass die Herrschaftsgenealogie wieder restituiert wird. Merope handelt als gute Frau folglich nicht aktiv, sie schickt ihren Sohn nur in Begleitung eines treuen Dieners in die Fremde, doch legt sie damit die Basis für eine mögliche Restituierung der Herrschaft durch ihren Sohn.

Die Mutter als Trägerin des Mitleids

Bereits Ende der 1630er Jahre reflektiert La Mesnardière die Neukonzeption der französischen Tragödie als Liebestragödie in seiner Poétique und hebt dabei die besondere Bedeutung der pitié, des Mitleids hervor. Gemäß seiner Argumentation sind Furcht und Mitleid zwar die beiden zentralen Konzepte der Tragödie, doch gebühre dem Mitleid der Vorrang, so dass notwendigerweise die tendresse sowie die Liebe zu bedeutenden Trägern der Handlung werden. Dabei hat La Mesnardière weniger die Liebe zwischen Partnern im Sinne als diejenige zwischen Freunden sowie die Liebe der Mutter zu ihren Kindern. Das Mitleid des Publikums resultiert aus dem Leiden der Mutter, die wahlweise den Verlust des Gatten oder der Kinder zu beklagen hat und entsprechend selbst als leidender Charakter gestaltet wird. Exemplarisch lässt sich dies anhand der Figur der Andromaque in Jean Racines gleichnamiger Tragödie zeigen, insofern diese ihren Gatten Hektor bereits während des Trojanischen Krieges verloren hat und zum Beginn der Handlung als Gefangene zusammen mit ihrem Sohn am Hof von Pyrrhus, dem Sohne des Achill lebt, der sie zudem zur Frau begehrt. Andromaque steht innerhalb der Handlung nicht nur am Ende der berühmten Liebeskette, sondern sie steht auch für das Ende jeglicher Ambitionen auf neuerliche Herrschaft über Troja ein. Ihr Leid, den eigenen Gatten und die eigene Herrschaft verloren zu haben, wandelt sich bei ihr in Mitleid um, so dass sie ihren Sohn lehrt, seine zukünftige Herrschaft dafür zu nutzen, keine Kriege zu führen und jedweden Anspruch auf Herrschaft über die eigenen Grenzen hinaus fallen zu lassen.

Zu diesen vier Paradigmen der Muttertragödie kommen viele weitere Modellierungen hinzu, die indes häufig nicht eindeutig diesem Tragödientypus zuzuordnen sind. Die Figur der Phèdre in Jean Racines gleichnamiger Tragödie handelt etwa auch als Mutter ihrer beiden mit Thésée gemeinsamen Söhne, doch wird über den dominanten Ehebruch und möglichen Inzest diese Dimension weitgehend in den Hintergrund gedrängt. In Pierre Corneilles Tragödie Rodogune agiert wiederum die Figur der Cléopâtre zwar als Mutter ihrer beiden Söhne, doch wird die Handlung vom Antagonismus zwischen ihr und der titelgebenden Figur geprägt, so dass die Söhne regelrecht zum Spielmaterial der beiden Akteurinnen werden, über die der tragisch endende Streit über die Herrschaft ausgefochten wird. Cléopâtre erscheint dergestalt eher als ‚starke Frau‘, die auch Mutter ist, und eben nicht vordringlich als Mutter. Doch resultiert gerade daraus das Spannungspotenzial, aufgrund dessen Corneille diese Tragödie für sein bedeutendstes Werk hielt, das dann im Verlauf des 18. Jahrhunderts den Anstoß für zahlreiche Kritiken und Auseinandersetzungen – etwa bei Maffei und Lessing – bot.

  • Steigerwald, Jörn: „Familientragödie. Die Begründung des modernen Dramas in der Frühen Neuzeit (am Beispiel von Pierre Corneilles Médée).“ In: Comparatio. Zeitschrift für Vergleichende Literaturwissenschaft 9, 2, 2017, S. 285–304.
  • Steigerwald, Jörn: „Une tragédie pour le Louvre: La Poétique de La Mesnardière.“ In: Littératures Classiques 103, 3, 2020: La Mesnardière, un lettré de cour au XVIIe siècle, S. 83–91.
  • Steigerwald, Jörn: „Corneille maître du jeu ou la dramatologie novatrice de Rodogune.“ In: Corneille présent. Publications numériques du CÉRÉdI 1, 2021. Auf: http://publis-shs.univ-rouen.fr/ceredi/index.php?id=1203.
  • Steigerwald, Jörn: „Von der Liebestragödie zur Tragödie der Liebe: Jean Racines Phèdre.“ In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 62, 2021, S. 181–210.
  • Steigerwald, Jörn: Die Geburt der italienischen Liebestragödie: Scipione Maffeis Merope.“ In:  Ders. u. Leonie Süwolto (Hg.): ZwischenSpielZeit. Das Theater der Frühaufklärung (1680–1730). Paderborn: Brill | Fink 2022, S. FOLGT.

Ver­fass­er

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Prof. Dr. Jörn Steigerwald

Komparatistik/Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft

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Zitationsvorschlag

Steigerwald, Jörn: „Müttertragödie.“ In: Website des Projekts „Theaterkulturen im klassischen Zeitalter“ des Fachbereichs Komparatistik/Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft der Universität Paderborn. Auf: go.upb.de/theaterkulturen_muettertragoedie, 06.05.2022.