Zivile Tragödie
Leonie Süwolto
Bereits in der 1980er Jahren hat der Germanist Wolfgang Proß den Begriff des zivilen Klassizismus in die Forschungsdebatte um die Entwicklungen des (europäischen) Dramas des 17. und 18. Jahrhunderts eingeführt, der insbesondere in Bezug auf die Entwicklungen im deutschsprachigen Raum ein Komplement und zugleich ein Korrektiv für eine bis dato präferierte sozialgeschichtliche Elaboration der Dramenentwicklung bereitstellt, die fälschlicherweise lange dazu geführt hat, das ‚bürgerliche‘ Drama ständisch zu fassen, während Proß’ Begriff demgegenüber die Bedeutung des Ethischen, des Menschlichen und Apolitischen zentral setzt. Lessing erscheint in Proß’ Unterscheidung zwischen Hof-, Neo- und zivilem Klassizismus als bedeutendster Exponent der zivilen Tradition, während die Stellung des deutschen Dramas der Frühaufklärung, insbesondere der Dramen Gottscheds, der Gottschedin und Schlegels, im Rahmen dieser Rubrizierung gänzlich unberücksichtigt bleibt.
Die Begriffsbildung ‚zivile Tragödie‘ lehnt sich unverkennbar an Proßʼ Terminus des zivilen Klassizismus an, stellt jedoch zum einen dessen gattungsbezogene Spezifikation dar, zum anderen eine entscheidende methodologische Weiterentwicklung, die sich auch auf die gattungsgeschichtlichen Transformationen der bisher unterrepräsentierten Frühphase des 18. Jahrhunderts beziehen lässt. Der Begriff profiliert in diesem Sinne ein tragödiengeschichtliches Erkenntnisinteresse und erlaubt, die historischen Transformationen der klassizistischen Tragödie insbesondere – aber nicht ausschließlich – im deutschen Sprachraum nach 1700 von ihrem prägenden Ethos her zu denken und zu beschreiben, und nicht – wie die Literaturgeschichtsschreibung dies bis dato zumeist voraussetzt – von ihrer Formgebung, ihrem Figurenpersonal oder ihrer Konfliktstellung, was bis heute die Annahme einer gattungsgeschichtlichen Zäsur in der Jahrhundertmitte stützt. Die Fokussierung auf das Tragödienethos erscheint dagegen umso naheliegender, als die Priorisierung der moralischen Wirkung der Gattung im historischen Kontext der Aufklärung unbestreitbar ist. Der entscheidende Mehrwert dieser Herangehensweise liegt folglich darin, die Zusammenhänge und Bedingungsverhältnisse sich scheinbar entgegenstehender Traditionslinien, i.e.S. der heroisch-politischen und der bürgerlich, d.h. privat-familiär ausgerichteten Tragödientradition sichtbar machen zu können, ohne dabei ihre sichtbaren Divergenzen zu glätten oder diese wahlweise in ein Fortschrittsschritts- resp. Absetzungsnarrativ kleiden zu müssen. Fortschritts- und Absetzungsnarrative in Bezug auf die tragödiengeschichtliche Entwicklung um die Jahrhundertmitte haben sich vor allen Dingen hinsichtlich der Valorisierung von Lessings dramatischen Novationen durchgesetzt, der wahlweise im Vergleich zu J. Chr. Gottsched als Überwinder der klassizistischen Tradition oder im Sinne seiner Würdigung Shakespeares in den Literaturbriefen gar als Vorläufer des Sturm und Drang betrachtet und gefeiert wird. Zudem wird durch die Fokussierung auf das Tragödienethos nicht nur dem antikisierenden Zuschnitt der Tragödien nach 1700 Rechnung getragen, sondern eine erweiterte kulturkomparatistische Perspektive eingenommen, insofern die zivile Tragödie deutscher Prägung konstitutiv auf der Rezeption europäischer Klassizismen um 1700 und damit verbundener Ausprägungen der zivilen Tragödie, wie es sie zuvor beispielsweise in Frankreich gegeben hat oder fast zeitgleich in Italien gibt, aufbaut. Diese Fluchtlinien zu verschiedenen europäischen Tragödientraditionen und -modellen, auf deren produktiver Akkulturation die deutschsprachige zivile Tragödie aufbaut, werden insbesondere in J. Chr. Gottscheds Vorrede zur selbsterklärten Mustertragödie Sterbender Cato (1732) nachgezeichnet. Als nachahmungswürdige Vorbilder und Probiersteine des regelmäßigen Dramas in Europa nennt dieser einerseits Corneilles Tragikomödie Le Cid (1637), Maffeis Merope (1713) und schließlich die Cato-Tragödie des Engländers Addison (1712/1713), (vgl. Gottsched 2020 [1732], S. 7) die jedoch erst in ihrer Überarbeitung durch Gottsched, der sie mit Deschamps’ fast zeitgleich entstandenem Caton d’Utique (1715) zu einer Originaltragödie konstelliert, zum Muster der zivilen Tragödie reift, indem der politische Gehalt der englischen Tragödie zugunsten eines universellen, zivilen Ethos in der französischen Bearbeitung getilgt wird.
Seit der Begründung der Tragödientheorie in der aristotelischen Poetik im 4. Jh. v. Chr. wird das Ethos der Tragödie und ihrer dramatis personae in der Regel politisch gefasst. Aristoteles leitet aus seiner politischen Anthropologie des zoon politikon Regulative der Figurenzeichnung innerhalb der Gattung Tragödie ab, die das Handeln der Figuren in ein wirksames Verhältnis zu den jeweiligen politischen Herrschaftsverhältnissen setzen. Die dezidiert ähnlich gefasste ‚Tüchtigkeit‘ firmiert in diesem Sinne in der Poetik als wichtigstes Verhaltensideal des tragischen Helden. Als tüchtig kann im Verständnis der Poetik allererst der Mann, nicht aber die Frau oder der Sklave gelten, „[d]a – nach Aristoteles – der Beherrschte weniger tüchtig ist als der Herrschende“. (Fuhrmann 1982, S. 121) Damit legt die aristotelische Poetik den Grundstein für eine lange Tradition der Staats- und Heldentragödie.
Im Kontext der Auslegung der antiken Poetik in der Französischen Klassik wird dieses politische Ethos der Tragödie entsprechend der absolutistischen Herrschaftsverhältnisse und der damit verbundenen Kulturpolitik zumindest im Rahmen vieler theoretischer Erwägungen zu einem dezidiert ständischen Ethos umgedeutet. Der Dramatiker Pierre Corneille, der vermeintlich wie kein Zweiter das staatsklassizistische Profil der regelmäßigen französischen Tragödie im 17. Jahrhundert repräsentiert, verpflichtet in seinen berühmten Trois discours sur le poème dramatique, die 1660 nach der Machtübernahme von Ludwig XIV erscheinen, das Figurenhandeln ausdrücklich auf die unbedingte Wahrung des Staatswohls, während ‚Privatinteressen‘ als Handlungsmaxime höchstens nachrangig bzw. supplementär anzusehen sind, wenngleich sogar viele seiner später nachfolgenden Tragödien, darunter insbesondere die Tragödie Agésilas (1666), dieser normativ wirkenden Rangfolge eindeutig widersprechen oder diese mindestens problematisieren.
Auch die Durchsetzung der klassizistischen, antikisierenden Tragödie im deutschen Sprachraum nach 1700, die wesentlich mit dem Namen Johann Christoph Gottsched und dessen kulturpolitischen Reformbestrebungen assoziiert wird, bleibt der opinio communis folgend dem politischen Ethos und der heroisch-politischen Prägung der antiken und klassizistischen Tragödie treu. Entsprechend der feudalabsolutistischen Herrschaftsverhältnisse scheint diese auf den ersten Blick standesbezogene Verhaltensideale zu vermitteln, insofern die Tragödie nach 1700 immer noch die „Unglücksfälle der Großen dieser Welt […] [, der] Monarchen, Kaiser, Könige, Fürsten und Herren“ (Gottsched 1729, S. 494 u. 497) auf die Bühne bringt. In der einschlägigen Forschung wird mehrheitlich davon ausgegangen, dass sich erst durch den Einfluss empfindsamer Tendenzen in der Hochaufklärung ein umfassenderer Umbau der klassizistischen Tragödie, die mit und nach Lessing das politische Ethos zugunsten universalisierbarer, menschlicher Verhaltensideale aufgebe, was bis in die 1970er Jahre hinein fälschlicherweise soziohistorisch begründet und mit dem Aufstieg des Bürgertums assoziiert wurde, dementsprechend jedoch einen weitreichenden Anachronismus produzierte.
Erst mit der Einsicht, dass Lessings Attribuierung seiner bzw. seines Trauerspiels als ‚bürgerlich‘ – in der Regel werden darunter die Miß Sara Sampson (1755) und die Emilia Galotti (1772) gefasst, tatsächlich trägt nur die Erstveröffentlichung des tragischen Debuts diesen Zusatz – dem zeitgenössischen Sprachgebrauch, nicht dem gesellschaftlichen Strukturwandel folge, wird Lessings Dramatik einer Neubewertung unterzogen, während das gottschedische Drama von dieser Entwicklung der Aufklärungsforschung zunächst gänzlich unberührt bleibt. Selbst die umfassendere Würdigung und differenziertere Auseinandersetzung, die Gottscheds Œuvre in der Forschung seit dem 300. Geburtstag im Jahr 2000 erfährt, schließt den Tragödientheoretiker, insbesondere den Tragödiendichter Gottsched aus, sodass tatsächlich weiterhin von einer dramengeschichtlichen Zäsur im mittleren 18. Jahrhundert ausgegangen wird.
Der Begriff der zivilen Tragödie erlaubt eine kritische Revision jener etablierter und konventionalisierter Narrative der Dramen-, insbesondere der Tragödiengeschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts, die Transformationen der Gattung auf der Grundlage eines gegenüber der antiken Tragödie veränderten Ethos bestimmt. Die Zivilisierung der Tragödie im 18. Jahrhundert impliziert sodann eine Entkoppelung der Gattung und ihrer Handlungsträger*innen von politischen resp. militärischen, gar ständischen Verhaltensidealen, wie sie begriffsgeschichtlich noch in Aristoteles ‚Tüchtigkeit‘ angelegt sind oder in der an Horazʼ Terminologie angelehnten, vornehmlich rhetorisch gefassten ‚Angemessenheit‘ enthalten sind, die unter anderem eine dem jeweiligen Stand entsprechende Redeweise zugrunde legt. Aus dieser Perspektive gelangen bis dato nur in Ansätzen erwogene Kontinuitäten der Gattungsentwicklung von Gottsched bis Lessing in den Blick, die unter Maßgabe der umfassenden moraldidaktischen Funktionalisierung der Tragödie der Aufklärung eine Zivilisierung und Universalisierung ihres Ethos erforderlich macht. Ohne die unbestreitbaren Divergenzen der jeweiligen Tragödienmodelle in der Konfliktsetzung, der Figurenzeichnung und Handlungsführung nivellieren zu müssen, lässt die Begriffsbildung eine differenzierte Betrachtung der Gattungsentwicklung um und nach 1700 zu. Die Bedingungen dieser Zivilisierung des Tragödienethos werden indes einsichtig, wenn man die zeitgenössischen Tragödien(theorien) aus geschlechterpoetologischer Perspektive (> Geschlechterpoetik) betrachtet.
Um dies abschließend an einem besonders eindrücklichen Beispiel zu verdeutlichen, sei Luise Gottscheds einzige Tragödie Panthea (1744) genannt, die erstmals anonym in der Dramenanthologie Die Deutsche Schaubühne ihres Ehemanns J. Chr. Gottsched publiziert wird. Die Tragödie vollzieht den Umbau des klassizistischen Dramas heroisch-politischer Prägung zur zivilen Tragödie in nuce. Während die regelmäßige Tragödie sich zunächst als auf der historischen Überlieferung aufbauender Fürstenspiel mustergültig in die Tradition der heroisch-politischen Tragödie einzureihen scheint, zeigt bereits die Titelgebung eine eindeutige Akzentverschiebung an. Als Komplement der vorbildlichen Herrscherfigur Kyros II und ihres am Staatswohl ausgerichteten Handelns tritt im Drama der Gottschedin die ihm ebenbürtige, wenn nicht gar übergeordnete Figur der Panthea auf, die durch ihre lautere, unnachgiebige und durch nichts zu korrumpierende Liebe zu ihrem Ehemann, die sie durch ihre Selbstopferung bekräftigt, die Maßstäbe tragischen und moralischen Handelns innerhalb der Tragödie neu definiert. Durch ein ihr auf Kyros’ Geheiß errichtetes Ehrenmal wird Panthea buchstäblich zum Mahnmal eines dezidiert zivilen, an der Menschenliebe ausgerichteten Tugendideals, das die Herrscherfigur daraufhin zur leitenden Handlungsmaxime erklärt.
- Süwolto, Leonie: ,,Schlegels ,Die Braut in Trauer' und die Geschlechterpoetik der 'zivilen Tragödie'. Zur gattungsgeschichtlichen Bedeutung von Schlegels Dramenfragment", in: dies./Puscher, Sahra (Hg.): Johann Elias Schlegel und das Theater. Zwischen Revision und Reform. Paderborn: Brill | Fink 2024, S. 117-142.
- Paderborn: Brill | Fink 2024 (= Poesis. Supplementa der Zeitschrift Artes. Zeitschrift für Literatur und Künste der Frühmoderne).
- Süwolto, Leonie: „Der ‚zivile Klassizismus‘ Gottscheds und Lessings: Kritische Revision eines Oppositionsverhältnisses.“ In: dies. u. Hendrik Schlieper (Hg.): Johann Christoph Gottscheds Versuch einer Critischen Dichtkunst im europäischen Kontext. Heidelberg: Winter 2020, S. 105–130.
- Süwolto, Leonie: „Von der heroischen Tragödie zum (bürgerlichen) Trauerspiel. Gattungspoetische Selbstreflexion in Lessings Miss Sara Sampson.“ In: Jörn Steigerwald u. Burkhard Meyer-Sickendiek (Hg.): Das Theater der Zärtlichkeit. Affektkultur und Inszenierungsstrategien in Tragödie und Komödie des vorbürgerlichen Zeitalters (1630–1760). Wiesbaden: Harrassowitz, 2020, S. 275–306.
- Süwolto, Leonie: „Von Arsene zu Emilia – Transformationen des zivilen Klassizismus oder Gattung und Geschlecht bei Deschamps, Gottsched und Lessing.“ In: Jörn Steigerwald, Hendrik Schlieper u. dies. (Hg.): Komparatistik heute. Aktuelle Positionen der Vergleichenden Literatur- und Kulturwissenschaft. Paderborn: Brill | Fink 2021, S. 45–68.
- Süwolto, „Leonie: Gottscheds Tragödienpoetik zwischen Staats-/Helden- und Liebestragödie. Corneilles Cid in der Deutschen Schaubühne und die Geburt der zivilen Tragödie.“ In: Dies. (Rd.): Artes. Zeitschrift für Literatur und Künste der frühmodernen Welt 1, 2, 2022: Akkulturationen des europäischen Dramas in Johann Christoph Gottscheds Deutscher Schaubühne, S. FOLGT.
- Süwolto, Leonie: „Lessing, Sophonisbe und die Renaissance der frühneuzeitlichen Tragödie. Tragödienpoetologische Implikationen in Lessings Vorrede zu Des Herrn Jakob Thomson Sämtliche Trauerspiele.“ In: Hendrik Schlieper (Hg.): Sophonisbe. Die Renaissancen der frühneuzeitlichen Tragödie. Wiesbaden: Harrassowitz 2022, S. FOLGT.
- Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch. Übers. u. hg. v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart: Reclam 2018.
- Gottsched, Johann Christoph: „IX. Akademische Rede: Die Schauspiele, und besonders die Tragödien sind aus einer wohlbestellten Republik nicht zu verbannen.“ In: Ders.: Gesammelte Reden, Bd. 9, Teil II. Hg. v. P. M. Mitchell. Berlin: De Gruyter 1976, S. 492–500.
- Gottsched, Johann Christoph: „Vorrede.“ In: ders.: Sterbender Cato. Hg. v. Horst Steinmetz. Stuttgart: Reclam 2020, S. 7–21.
- Gottsched, Luise Adelgunde Victorie [Anonym]: Panthea. In: Johann Christoph Gottsched (Hg.): Die Deutsche Schaubühne. 6. Bde. Faksimiledruck nach der Ausgabe 1741–1745, Bd. 5. Stuttgart: Metzler 1972, S. 1–66.
- Proß, Wolfgang: „Die Konkurrenz von ästhetischem Wert und zivilem Ethos. Ein Beitrag zur Entstehung des Neoklassizismus.“ In: Roger Bauer (Hg.): Der theatralische Neoklassizismus um 1800. Ein europäisches Phänomen? Bern u.a.: Lang 1986, S. 64–126.
Verfasserin
Zitationsvorschlag
Süwolto, Leonie: „Zivile Tragödie.“ In: Website des Projekts „Theaterkulturen im klassischen Zeitalter“ des Fachbereichs Komparatistik/Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft der Universität Paderborn. Auf: go.upb.de/theaterkulturen_zivile-tragoedie, 06.05.2022.