Kan­ti­a­ner oder Neu­kan­ti­a­ner?

Über die Schwierigkeiten, Frege der Philosophie seiner Zeit zuzuordnen

Volker Peckhaus, Erlangen

1. In­tro­duc­ti­on

Im Laufe der Diskussion um die Frage, ob und wenn ja, wie weit Freges Denken vom Neukantianismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts beeinflußt war, konnten die philosophischen Ansätze dieses Mathematiker-Philosophen in den Kontext der zeitgenössischen Philosophie gestellt werden. Es konnte so gezeigt werden, daß sie nicht gleichsam "vom Himmel gefallen" sind, sondern unter dem Einfluß von Philosophemen der Zeit entstanden sind.

Im folgenden werde ich allerdings die Zuordnung Freges zum Neukantianismus (im engeren Sinne) als zu eng kritisieren. Ich denke, daß sich eine solche Zuordnung schon deshalb verbietet, weil Freges Logik und sein logizistisches Programm und damit wesentliche Bestandteile seiner Lehre von den Hauptvertretern des Neukantianismus zurückgewiesen worden sind. Die Ergebnisse der hier vorgelegten Untersuchung sprechen allerdings nicht dagegen, Frege in den breiteren Kontext des Kantianismus seiner Zeit zu stellen. Dies soll anhand seiner Beziehungen zum Friesianismus und insbesondere zum Neofriesianismus des Göttinger Philosophen Leonard Nelson exemplifiziert werden. Frege steht also durchaus im Kontext eines Philosophierens im Deutschland des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, das Wilhelm Windelband, der Begründer der Südwestdeutschen Schule des Neukantianismus, in Anspielung auf Otto Liebmanns Ruf: "Es muß auf Kant zurückgegangen werden" (Liebmann 1865, 215), wie folgt charakterisiert hat (Windelband 1883, IV):

    Wir alle, die wir im 19. Jahrhundert philosophieren, sind die Schüler Kants. Aber unsere "Rückkehr" zu ihm darf nicht die bloße Erneuerung der historisch bedingten Gestalt sein, in welcher er die Idee der kritischen Philosophie darstellte. [...] Kant verstehen, heißt über ihn hinausgehen.

2 Me­tho­di­sche Pro­ble­me

Die Erfolge, die durch den Vergleich von Freges Philosophie mit dem philosophischen Denken seiner Zeit erzielt werden konnten, haben zu einer Rehabilitation historisch-kontextuellen Vorgehens in der Frege-Forschung geführt. Immerhin hat selbst Michael Dummett, der wichtigste Vertreter einer textimmanenten Fregeinterpretation, in seiner Antwort an Hans D. Sluga zugeben müssen, daß nur mit Hilfe einer kontextuellen Vorgehensweise verstanden werden kann, wogegen es Frege als notwendig erachtet hat, zu argumentieren und warum er sich so ausgedrückt hat, wie er es getan hat.1

Die Zuordnung Freges zum Neukantianismus, wie sie vor allem Gottfried Gabriel in pointierter Weise vorgeschlagen hat,2 eröffnet in der Tat neue Möglichkeiten der Interpretation. Bei aller Genugtuung darüber gerät der Umstand aus dem Blick, daß es durchaus umstritten ist, welche Autoren und philosophische Richtungen überhaupt unter die philosophiehistorische Ordnungsbezeichnung "Neukantianismus" fallen. Das Problem der Zuordnung liegt in der Vagheit des Prädikats "Neukantianer sein". Diese Vagheit wird durch die Vagheit des Begriffs "Neukantianismus" selbst verursacht, aber auch allgemein durch die Schwierigkeiten, klare und deutliche Kriterien für die Zuordnung eines Denkers zu einer philosophischen Richtung zu geben, zumindest in Grenzfällen, zu denen unzweifelhaft der professionelle Mathematiker Gottlob Frege gehört.

Bei den vorliegenden Bestimmungen des Begriffs "Neukantianismus" lassen sich extreme Divergenzen feststellen. Traugott Konstantin Oesterreich z.B. bespricht in der von ihm 1923 herausgegebenen 12. Auflage des von Friedrich Ueberweg begründeten Grundriss der Geschichte der Philosophie insgesamt sieben neukantianische Richtungen (Oesterreich [Hg.] 1923, 417): die physiologische Richtung (Helmholtz, Lange), die metaphysische Richtung (Liebmann, Volkelt), die realistische Richtung (Riehl), die logizistische Richtung (Cohen, Natorp, Cassirer - Marburger Schule), den werttheoretischen Kritizismus (Windelband, Rickert, Münsterberg - südwestdeutsche oder badische Schule), die relativistische Umbildung des Kritizismus (Simmel) und schließlich die psychologische Richtung (Neue Fries'sche Schule, Nelson). Das andere Extrem wird durch Hans-Ludwig Ollig repräsentiert, der es geradezu als ein Kennzeichen aktueller Forschung bezeichnet hat, die Bezeichnung "Neukantianismus" für die beiden großen Schulen, die Marburger Schule und die Südwestdeutsche Schule, zu reservieren (Ollig 1998, 776-778). Oesterreichs Bestimmung könnte als Neukantianismus im weiteren, Olligs Bestimmung als Neukantianismus im engeren Sinne bezeichnet werden. Beide Kennzeichnungen fallen nur in ihrem Kern zusammen, also bei den Richtungen, die sich im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert selbst als "neukantianisch" verstanden haben. Als solche waren sie Zielpunkt polemischer Auseinandersetzung auch innerhalb des Neukantianismus im weiteren Sinne. Es sei nur an den scharfen Streit zwischen dem Neofriesianer Leonard Nelson und dem Marburger Neukantianer Hermann Cohen erinnert, der durch den ätzenden Verriß von Cohens Logik der reinen Erkenntnis (1902, 21914) ausgelöst worden war, den Nelson in den Göttingischen Gelehrten Anzeigen veröffentlicht hatte.3

Wenn Gabriel den Neukantianismus als Alternative "sowohl zum spekulativen deutschen Idealismus Hegel-Schellingscher Prägung als auch zum naturwissenschaftlichen Empirismus und Sensualismus, insbesondere in Gestalt des physiologischen Materialismus Moleschotts und anderer" präsentiert (Gabriel 1986, 85), scheint er eher einer Verwendung des Terminus im weiteren Sinne zuzuneigen. Dies zeigt auch seine Präferenz für die Beziehungen Freges zu den "Neukantianern" Lotze und Liebmann. Lotze wird üblicherweise nicht dem Neukantianismus zugerechnet. Er sperrt sich jeder Richtungszuweisung. Sein auch von Kant und Leibniz beeinflußter teleologischer Mechanismus kann als Weiterentwicklung des spekulativen Theismus aufgefaßt werden, den er über seinen philosophischen Lehrer Christian Hermann Weiße kennengelernt hatte. Der Lotze-Biograph Reinhard Pester charakterisiert das Verhältnis Lotzes zum Neukantianismus als problematisch (Pester 1997, 342). Die Wirkung seiner Kantinterpretation auf den Neukantianismus ist unbestreitbar, denn über seinen Schüler Wilhelm Windelband wurde seine "höchst originale Fortbildung" der Kantischen Lehre im Südwestdeutschen Neukantianismus absorbiert und, wie Friedrich Kuntze schreibt, um ihr historisches Recht als eigenständige Variante des Neukantianismus - verstanden als Inbegriff von Richtungen der Kantinterpretation und -fortbildung - gebracht (Kuntze 1928, 159). Auch Otto Liebmann, Freges philosophischer Kollege in Jena, wird heute eher der Phase der neukantianischen Programmatik als dem eigentlichen Neukantianismus zugeordnet (vgl. Köhnke 1986, 229).

Die Erfolge, die durch den Vergleich von Freges Philosophie mit dem philosophischen Denken seiner Zeit erzielt werden konnten, haben zu einer Rehabilitation historisch-kontextuellen Vorgehens in der Frege-Forschung geführt. Immerhin hat selbst Michael Dummett, der wichtigste Vertreter einer textimmanenten Fregeinterpretation, in seiner Antwort an Hans D. Sluga zugeben müssen, daß nur mit Hilfe einer kontextuellen Vorgehensweise verstanden werden kann, wogegen es Frege als notwendig erachtet hat, zu argumentieren und warum er sich so ausgedrückt hat, wie er es getan hat.1

Die Zuordnung Freges zum Neukantianismus, wie sie vor allem Gottfried Gabriel in pointierter Weise vorgeschlagen hat,2 eröffnet in der Tat neue Möglichkeiten der Interpretation. Bei aller Genugtuung darüber gerät der Umstand aus dem Blick, daß es durchaus umstritten ist, welche Autoren und philosophische Richtungen überhaupt unter die philosophiehistorische Ordnungsbezeichnung "Neukantianismus" fallen. Das Problem der Zuordnung liegt in der Vagheit des Prädikats "Neukantianer sein". Diese Vagheit wird durch die Vagheit des Begriffs "Neukantianismus" selbst verursacht, aber auch allgemein durch die Schwierigkeiten, klare und deutliche Kriterien für die Zuordnung eines Denkers zu einer philosophischen Richtung zu geben, zumindest in Grenzfällen, zu denen unzweifelhaft der professionelle Mathematiker Gottlob Frege gehört.

Bei den vorliegenden Bestimmungen des Begriffs "Neukantianismus" lassen sich extreme Divergenzen feststellen. Traugott Konstantin Oesterreich z.B. bespricht in der von ihm 1923 herausgegebenen 12. Auflage des von Friedrich Ueberweg begründeten Grundriss der Geschichte der Philosophie insgesamt sieben neukantianische Richtungen (Oesterreich [Hg.] 1923, 417): die physiologische Richtung (Helmholtz, Lange), die metaphysische Richtung (Liebmann, Volkelt), die realistische Richtung (Riehl), die logizistische Richtung (Cohen, Natorp, Cassirer - Marburger Schule), den werttheoretischen Kritizismus (Windelband, Rickert, Münsterberg - südwestdeutsche oder badische Schule), die relativistische Umbildung des Kritizismus (Simmel) und schließlich die psychologische Richtung (Neue Fries'sche Schule, Nelson). Das andere Extrem wird durch Hans-Ludwig Ollig repräsentiert, der es geradezu als ein Kennzeichen aktueller Forschung bezeichnet hat, die Bezeichnung "Neukantianismus" für die beiden großen Schulen, die Marburger Schule und die Südwestdeutsche Schule, zu reservieren (Ollig 1998, 776-778). Oesterreichs Bestimmung könnte als Neukantianismus im weiteren, Olligs Bestimmung als Neukantianismus im engeren Sinne bezeichnet werden. Beide Kennzeichnungen fallen nur in ihrem Kern zusammen, also bei den Richtungen, die sich im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert selbst als "neukantianisch" verstanden haben. Als solche waren sie Zielpunkt polemischer Auseinandersetzung auch innerhalb des Neukantianismus im weiteren Sinne. Es sei nur an den scharfen Streit zwischen dem Neofriesianer Leonard Nelson und dem Marburger Neukantianer Hermann Cohen erinnert, der durch den ätzenden Verriß von Cohens Logik der reinen Erkenntnis (1902, 21914) ausgelöst worden war, den Nelson in den Göttingischen Gelehrten Anzeigen veröffentlicht hatte.3

Wenn Gabriel den Neukantianismus als Alternative "sowohl zum spekulativen deutschen Idealismus Hegel-Schellingscher Prägung als auch zum naturwissenschaftlichen Empirismus und Sensualismus, insbesondere in Gestalt des physiologischen Materialismus Moleschotts und anderer" präsentiert (Gabriel 1986, 85), scheint er eher einer Verwendung des Terminus im weiteren Sinne zuzuneigen. Dies zeigt auch seine Präferenz für die Beziehungen Freges zu den "Neukantianern" Lotze und Liebmann. Lotze wird üblicherweise nicht dem Neukantianismus zugerechnet. Er sperrt sich jeder Richtungszuweisung. Sein auch von Kant und Leibniz beeinflußter teleologischer Mechanismus kann als Weiterentwicklung des spekulativen Theismus aufgefaßt werden, den er über seinen philosophischen Lehrer Christian Hermann Weiße kennengelernt hatte. Der Lotze-Biograph Reinhard Pester charakterisiert das Verhältnis Lotzes zum Neukantianismus als problematisch (Pester 1997, 342). Die Wirkung seiner Kantinterpretation auf den Neukantianismus ist unbestreitbar, denn über seinen Schüler Wilhelm Windelband wurde seine "höchst originale Fortbildung" der Kantischen Lehre im Südwestdeutschen Neukantianismus absorbiert und, wie Friedrich Kuntze schreibt, um ihr historisches Recht als eigenständige Variante des Neukantianismus - verstanden als Inbegriff von Richtungen der Kantinterpretation und -fortbildung - gebracht (Kuntze 1928, 159). Auch Otto Liebmann, Freges philosophischer Kollege in Jena, wird heute eher der Phase der neukantianischen Programmatik als dem eigentlichen Neukantianismus zugeordnet (vgl. Köhnke 1986, 229).

3 Fre­ge und der Neu­kan­ti­a­nis­mus im en­ge­ren Sin­ne

3.1 Süd­west­deut­scher Neu­kan­ti­a­nis­mus

Für Wilhelm Windelband, den Begründer der Südwestdeutschen Schule des Neukantianismus, war die paradigmatische Figur der formalen Logik im 19. Jahrhundert Herbart, die formale Logik selbst aber eine Disziplin, die nach dem Aristotelischen Geniestreich kaum noch substantiellen Fortschritt zuließ. So jedenfalls belehrt uns Windelband noch 1904 (21907) in seinem Beitrag für die Festschrift zu Kuno Fischers 80. Geburtstag, worin eine Bestandsaufnahme logischer Forschung in der Philosophie zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu geben beansprucht (1907, 184f.). Aus dem Entstehungskontext der mathematischen Logik erwähnt Windelband dort nur die britischen Auseinandersetzungen um die Quantifikation des Prädikats. Sein Kommentar zu dieser "Logik des grünen Tisches" (187): "Als ob wir über nichts Besseres nachzudenken hätten als darüber, in welcher Ausdehnung der Umfang des Begriffes A dem des Begriffes B einzuordnen ist!" Was sagt nun Windelband zu den Logikkalkülen der symbolischen bzw. mathematischen Logik in Deutschland?4

In Deutschland hat dieser logische Sport, dem das Verdienst einerÜbung formalen Scharfsinns nicht abzusprechen ist, wenig Anklang gefunden: hier und da ist man auf die Bedeutung dieser Analogien für arithmetische Lehren aufmerksam geworden; im ganzen wurde die Sache von den Logikern abgelehnt. Wundt hat in seiner Logik diesem Algorithmus der logischen Formen ein eigenes Kapitel gewidmet, aber dabei mit einiger Kühle erklärt, daß das Studium dieses Kapitels nicht unerläßlich sei.

Frege wie auch andere Vertreter der mathematischen oder symbolischen Logik werden nicht erwähnt. Es sei daran erinnert, daß Windelbands Aufsatz 1904 erstmals erschien, als die wichtigsten Arbeiten Freges, aber auch die meisten Teile der monumentalen Vorlesungen über die Algebra der Logik von Ernst Schröder (Schröder 1890-1905) erschienen waren. Wie läßt sich Windelbands ungeheure Ignoranz gegenüber der symbolischen Logik seiner Zeit erklären? Ich denke, daß Windelband diese Bereiche der Logik bereits in die Mathematik verabschiedet hatte, daß für ihn die Ausarbeitung und Begründung logischer Kalküle also keine Aufgabe für die Philosophie war.

Dies scheint auch für Heinrich Rickert zu gelten, der sich mit seiner Schrift Das Eine, die Einheit und die Eins von 1911 (21924) ganz offensichtlich gegen die Vertreter der mathematischen Logik wendete. Er beschwört die Gefahr des "logischen Mathematizismus" für "die Selbständigkeit der Logik als Lehre vom Logos" herauf (1924, 3), eine Gefahr, die er aber nicht nur in rationalistischen, sondern auch in antirationalistischen und phänomenologischen Bewegungen repräsentiert sieht. Rickert sieht gerade die Eigenart des Logischen durch seine Verwechslung mit dem Mathematischen bedroht. Die Lösung dieses Problems heißt für Rickert Abgrenzung. Folgerichtig stellt er die Frage: "Wie unterscheidet sich das Logische, wenn es in Form mathematischer Erkenntnisse auftritt, von jenem ,rein` Logischen, das die Logik für sich herauszuarbeiten sucht?" (4). Zugespitzt auf den für die Mathematik elementaren Zahlbegriff will er "die Zahl als ein Gebilde [...] erweisen, das, obwohl es mathematisch elementar ist, sich nicht als rein logisch verstehen läßt" (ebd.). Rickert will das "alogische Wesen der Zahl" zeigen.

Obwohl das klingt, als sei es gegen Frege gemünzt, nimmt Rickert die gegenläufigen Ansichten Freges zu dieser Frage schlicht nicht zur Kenntnis. Frege wird in der Schrift nicht genannt, nicht einmal im "Litera"-risch-kritischen Anhang", der der 2. Auflage angefügt ist. Rickert bestätigt in diesem Anhang vielmehr, daß er gegen einen "einseitigen Logizismus" anschreibt, einen Logizismus, "wie er nach Kant am radikalsten durch Hegel und später, abgeschwächt und mit wesentlichen Modifikationen, besonders von dem ,Marburger` Kantianismus vertreten worden ist" (1924, 87).

3.2 Ma­r­bur­ger Neu­kan­ti­a­nis­mus

Es ist der Neukantianismus der Marburger Schule um Hermann Cohen und Paul Natorp, der hier und anderenorts als "Logizismus" bezeichnet worden ist.5 Man sollte sich aber davor hüten, aus der schlichten Bezeichnung schon auf eine besondere Affinität zu Freges logizistischem Programm der Arithmetikbegründung zu schließen. "Logizismus" heißt im Werk Cohens, daß der Anfang der Erkenntnis im Denken liegen muß. Das Denken darf also keinen Ursprung außerhalb seiner selbst haben. Die Anschauung kann daher nicht, wie Kant dies gefordert hatte, als selbständige Erkenntnisquelle zugelassen werden (1914, 13). "Das Denken der Logik ist das Denken der Wissenschaft", schreibt Cohen (ebd., 19), wobei er dieses "Denken der Wissenschaft" paradigmatisch im faktischen Denken der mathematischen Naturwissenschaft repräsentiert sieht. Deshalb kann er auch vom "Faktum der Wissenschaft" ausgehen (ebd.). Der faktischen (mathematisch-naturwissenschaftlichen) Wissenschaft entlehnt er die Infinitesimalmethode für die Gegenstandskonstitution. Die Infinitesimalmethode erlaubt es nach Cohens Auffassung, den Ursprung des Endlichen in einem Unsinnlichen (nämlich Unendlichkleinen) zu sehen (ebd., 134).

Es verwundert kaum, daß Frege in Cohens Werk nicht genannt wird, hatte er sich doch zu sehr der formalen Logik verschrieben. Cohen dagegen spricht vom "Gespenst der formalen Logik" (1914, 13): "Wir bekämpfen nicht nur ihr sachliches Recht; wir bestreiten auch ihre reale Existenz" (ebd., 503).

Bei anderen wichtigen Vertretern der Marburger Schule findet eine Auseinandersetzung mit Frege durchaus statt. In seinem 1910 erschienenen Buch über Die logischen Grundlagen der exakten Wissenschaften nimmt Paul Natorp anders als Rickert und Cohen auch die von den Mathematikern seiner Zeit erarbeiteten Beiträge zum mathematischen Grundlagenproblem zur Kenntnis. Er kritisiert jedoch den mathematischen Logizismus, den er mit dem Formalismus zusammennimmt, weil in der Konsequenz dieser Auffassungen Mathematik und Logik zusammenfallen würden. Wenn aber sowohl Logik als auch Mathematik als deduktive Wissenschaften aufgefaßt würden, ergebe sich ein Zirkelproblem. Zu den Aufgaben der Logik gehörten nämlich die Aufstellung der Gesetze des deduktiven Verfahrens und die Rechtfertigung der von diesen beanspruchten notwendigen und allgemeinen Geltung. Als deduktive Wissenschaft hätte sich die Logik damit ihre Grundlagen selbst zu geben, ein offensichtlicher Zirkel (Natorp 1910, 5f.).

Natorp setzt sich in diesem Werk ausführlich und im Ton sehr wohlwollend mit Freges Grundlagen der Arithmetik ( 1884) auseinander (1910, 112-128), ja er betont sogar die Gleichheit der Grundlage ihrer Anschauungen (114). Gleichwohl kritisiert er Freges rein logische Anzahlbegründung, ohne sie jedoch, wie Christian Thiel gezeigt hat (vgl. Thiel 1997), voll durchschaut zu haben. Natorp selbst propagiert eine kategoriale Begründung der Mathematik, die auf Urfunktionen der Logik aufsetzt.

Ernst Cassirer, der Musterschüler Cohens, hat schon in Substanzbegriff und Funktionsbegriff von 1910 Bezug auf Freges Zahlbegründung und seine Unterscheidung von Sinn und Bedeutung genommen, wenn auch nur am Rande und in systematischem Zusammenhang. Freges Kritik an der sensualistisch-empirischen Zahlauffassung John Stuart Mills referiert er zustimmend ( 1910, 39-41), Freges eigene Zahlbegründung verwirft er aber zusammen mit anderen "Abstraktionstheorien", deren "Grundmangel" er wie folgt charakterisiert: "was als rein kategorialer Gesichtspunkt die Begriffsbildung leitet und beherrscht, das sucht man irgendwie als inhaltlichen Bestandteil in den verglichenen Objekten selbst wiederzufinden" (70). Seine spezifische Kritik an Frege verschärft Cassirer noch in der Philosophie der symbolischen Formen. Er erwähnt wieder Freges "klassische Beweisführung" gegen Mills "Arithmetik der Pfeffernüsse und Kieselsteine", mit der eine abschließende Klärung der Sache erreicht zu sein scheine ( 1929, 402). Doch Freges eigener Ansatz sei keine wirkliche Alternative, denn wenn Aussagen über Zahlen ihren objektiven Sinn und ihre objektive Gültigkeit nur dadurch erhalten, daß sie als Aussagen über Klassen erkannt werden, muß die Existenz solcher Klassen als Grundlage der Sätze der Arithmetik vorausgesetzt werden. "Wie Mill von der Schicht der empirischen Dinge, so geht demnach Frege von bestimmten Begriffs-Dingen aus, die er als unumgänglich-notwendiges Substrat des reinen Zahlenreichs betrachtet" (1929, 438). Diese Bemerkung ist kritisch, nicht deskriptiv gemeint. Denn reduziert man Freges Kritik an Mill darauf, daß Frege das Postulat der Existenz von dem Zahlbegriff vorausgehenden Gegenständen verwirft, so müßte Frege sein eigenes Konzept verwerfen. Freges Beweisführung gegen Mill kann also gegen ihn selbst gewendet werden. Cassirer hat dieses Argument aus Wilhelm Burkamps 1927 erschienenem Buch Begriff und Beziehung entlehnt, das er noch an einigen anderen Stellen seiner Frege-Kritik herangezog. Burkamps Wertung fällt übrigens schärfer aus: "Mir scheint," so schreibt er, "die Ableitung aus den empirischen Dingen noch eher befriedigend als Freges Ableitung aus den Begriffen" (1927, 209), dies übrigens in einem Buch, das der Autor "Gottlob Frege dem Logiker" zum Gedächtnis gewidmet hat.

Zurück zu Cassirer: Cassirer nimmt Frege zweifellos ernst, ohne ihm allerdings zu folgen. Seine Alternative heißt Erkenntniskritik, die er in Hinblick auf die Mathematikbegründung musterhaft bei Natorp repräsentiert sieht.

3.3 Der "jün­ge­re Neu­kan­ti­a­nis­mus"

Bruno Bauch gilt als einer der "zweifellos konsequentesten und scharfsinnigsten Vertreter des jüngeren Neukantianismus" (Ollig 1979, 81), der als Schüler Heinrich Rickerts die Gegensätze zwischen den beiden großen Schulen des Neukantianismus zu vermitteln suchte. 1911 wurde er als Nachfolger Liebmanns nach Jena berufen und dort zum Gesprächspartner Freges. Der Einfluß von Freges Begriffs- und Urteilslehre wird in zahlreichen Schriften Bauchs deutlich, z.B. in dem Buch Wahrheit, Wert und Wirklichkeit von 1923. Uwe Dathe macht in einer Studie von 1993 darüber hinaus plausibel, daß Frege in dieser Beziehung nicht nur "der wohl ausschließlich Gebende" (Gabriel 1986, 86) war, sondern daß seine Hinwendung zu orthodoxeren Kantischen Positionen nach dem Scheitern der logizistischen Mathematikbegründung in Bauchs Linie des Kantianismus einzuordnen ist. Hierzu gehört auch Freges späte Präferenz für die geometrische Erkenntnisquelle (gegenüber der sinnlichen und der logischen) in der Mathematik (Frege 1924/25).

4 Fre­ge und der Neo­frie­si­a­nis­mus

Wir haben gesehen, daß Frege in der jüngeren Generation der Neukantianer (im engeren Sinne) - bei Ernst Cassirer und Bruno Bauch; Richard Hönigswald könnte ergänzt werden (vgl. Dathe 1993, 340-342) - durchaus wohlwollend zur Kenntnis genommen wurde. Während in Cassirers Kritik noch eine Reserve gegenüber Freges Mathematikbegründung deutlich wird, kommt es zwischen Bauch und Frege zu einer wechselseitigen Befruchtung, zu einer Zeit allerdings, als Frege selbst seinen Logizismus bereits aufgeben hatte. Die Interdependenzen zwischen Frege und Bauch reichen jedoch kaum aus, Frege zum Neukantianer (im engeren Sinne) zu machen. Frege war inzwischen zu einer nicht mehr ignorierbaren Größe in der Philosophie der Mathematik geworden, dessen offensichtliche Affinitäten zur Kantischen Philosophie ihn für im engeren Sinne Neukantianische, aber auch für andere nach-kantische Richtungen interessant machten. Eine dieser Richtungen war der Neofriesianismus Leonard Nelsons und seiner Anhänger.

Von 1816 bis kurz vor seinem Tod im Jahr 1843 lehrte in Jena (mit politisch bedingten Unterbrechungen) Jakob Friedrich Fries, der den von Karl Leonhard Reinhold und Johann Gottlieb Fichte begründeten Ruf dieser Stadt als Hort des Kantianismus wieder aufleben ließ. Die von ihm vertretene anthropologische Vernunftkritik wurde dort nach der kurzen Episode der Fries'schen Schule (1847-1849) vor allem von Ernst Friedrich Apelt fortgeführt. Nach dem frühen Tod Apelts im Jahr 1856 hatte der Friesianismus in Jena für lange Jahre keine akademische Heimat mehr.

Während Freges Wirkungszeit in Jena hätte es aber durchaus zu Kontakten mit Personen kommen können, die Friesschem Denken nahegestanden haben. So war z.B. von 1884 bis 1909 Heinrich Eggeling als Universitätskurator tätig. Eggeling war ein Enkel von Fries, Sohn der Tochter von dessen erster Frau. Er besaß den handschriftlichen Nachlaß seines Großvaters und vertrat dessen Philosophie durchaus verständnisvoll.6 Zu ihm hatte Frege vor allem politische Kontakte, weil beide der Nationalliberalen Bewegung angehörten. Bekannt sind auch abfällige Bemerkungen Eggelings über Freges Lehrtätigkeit (vgl. Stelzner 1996, 16, 65-67). 1904 starb der Botaniker Ernst Hallier, dessen Kulturgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts (1889) Leonard Nelson zum Friesianismus bekehrte. Im vierten Buch der Kulturgeschichte widmete sich Hallier den Fortschritten und Rückschritten der Philosophie nach Kant, gleich zu Beginn der "mathematisch-naturwissenschaftlichen Schule", und damit Jakob Friedrich Fries und seinen Nachfolgern. Im "Gedränge der Philosophaster" (1889, 145) in der Philosophie nach Kant, so schrieb Hallier, sei Fries "als der treueste aller Schüler Kants" hervorgetreten. Er habe "dem Kantischen Philosophem Abrundung und Vollendung gegeben" (ebd., 148). 1904, im selben Jahr, in dem Hallier starb, kehrte Otto Apelt, der Sohn von Ernst Friedrich Apelt, als Gymnasialdirektor nach Jena zurück, nachdem er zuvor eine ebensolche Tätigkeit in Eisenach ausgeübt hatte.

Belege für eine philosophische Beziehung Freges zu Heinrich Eggeling, Ernst Hallier oder Otto Apelt gibt es nicht. Eine solche Beziehung läßt sich aber über Leonard Nelson knüpfen, den Göttinger Philosophen, der 1903 das gescheiterte Projekt einer Fries'schen Schule wiederaufnahm und eine Neue Fries'sche Schule konstituierte (vgl. Peckhaus 1999). 1908 wollte Nelson die in der Neuen Fries'schen Schule eher informell organisierte Friesbewegung durch Gründung eines Vereines institutionell stärken. Diese Institutionalisierung wurde mit der Gründung der Jakob-Friedrich-Fries-Gesellschaft im September 1908 vollzogen. Vorbereitende Überlegungen stellte Nelson seit Weihnachten 1907 an, von denen er seinem Freund, dem Mathematiker Gerhard Hessenberg, im März 1908 berichtete.7

Arbeitsgrundlage der Gesellschaft sollte ein 10-Punkte-Programm werden, in dem die Positionen des Neofriesianismus festgeschrieben wurden und das zugleich als Negativliste verwendet werden konnte, um bestimmte philosophische Richtungen aus dem Zusammenschluß ausklammern zu können. In unserem Zusammenhang ist vor allem der dritte Punkt von Interesse, mit dessen Formulierung Nelson darauf abzielte, Frege als Mitglied der Gesellschaft zulassen zu können. Dieser Punkt lautet:

    Verwerfung des mathematischen und naturwissenschaftlichen Empirismus. D.h. Anerkennung synthetischer Urteile a priori in Mathematik und Naturwissenschaft. Bei letzterer in dem Sinne, daß jede Induktion gewisse leitende Grundsätze voraussetzt, die selbst unabhängig von induktorischer Begründung gelten; also Anerkennung der Abhängigkeit des induktorischen Verfahrens von einer Metaphysik der Natur.

Die Ablehnung des Empirismus in Mathematik und Naturwissenschaften geht mit der Fregeschen Auffassung konform, ebenso wie die Feststellung, daß die Induktion selbst Grundsätze voraussetzt und daher als Begründungsanfang nicht taugt. Weit weniger im Fregeschen Geiste war Nelsons Forderung der Anerkennung synthetischer Urteile a priori in der Mathematik. Freges logizistische Zahldefinition zielte ja darauf ab, gerade den analytischen Charakter der Arithmetik zu zeigen. In seinem Kommentar bemerkte Nelson, daß die Wahl und Formulierung dieser Thesen "natürlich eine rein diplomatische Aufgabe" sei. Immerhin werde die synthetische Natur der Arithmetik nicht ausdrücklich gefordert. Nelson war wie Kant der Auffassung, daß sowohl die Sätze der Arithmetik als auch die der Geometrie synthetische Urteile a priori seien. Wenn er hier nun wenig spezifisch von der Anerkennung synthetischer Urteile a priori in der Mathematik spricht, so läßt er die Möglichkeit zu, daß nur einige, also z.B. geometrische Urteile synthetisch a priori seien. Beim Charakter geometrischer Urteile gab es keinen Dissens mit Frege. Aber auch hinsichtlich der arithmetischen Urteile erhebt Frege in den Grundlagen der Arithmetik "nicht den Anspruch, die analytische Natur der arithmetischen Sätze mehr als wahrscheinlich gemacht zu haben" (1884, § 90). Die Möglichkeit der synthetischen Natur der Arithmetik ist also auch bei Frege nicht ausgeschlossen. Die Fregesche Grundlegungskonzeption bleibt damit selbst bei einer Beschränkung auf den arithmetischen Teil der Mathematik mit der Nelsonschen Forderung kompatibel. Diese Kompatibilität ist mit Nelsons Zugeständnis erkauft, nicht explizit den synthetisch-apriorischen Charakter der Arithmetik zu fordern.8

Das Zugeständnis ist Nelson sicherlich nicht leichtgefallen, denn noch wenige Jahre zuvor hatte er in einem Aufsatz "Bemerkungen über die nicht-euklidische Geometrie und den Ursprung der mathematischen Gewißheit" (Nelson 1905/06) Freges Logizismus von der Position eines Kantianismus aus kritisiert, für den alle mathematischen Urteile synthetische Urteile a priori sind. Gegen Freges Behauptung, arithmetische Urteile beweisen zu können, "ohne Wahrheiten zu behaupten, welche nicht allgemein logischer Natur sind" (Frege 1884, 4), bringt er dort unter kritischem Anschluß an Benno Kerrys Kommentare zur Fregeschen Arithmetikbegründung (Kerry 1887) zwei Einwände vor ( 1905/06, 413f., Gesammelte Schriften III, 39f.):

  1. Wenn man analytische Urteile definiert als solche, die ausschließlich auf allgemein logischen Gesetzen gründen, bedarf es eines Kriteriums, um die allgemein logische Natur eines Gesetzes entscheiden zu können. Mit der Unterscheidung zwischen synthetischen und analytischen Urteilen wird die Möglichkeit zur Bereitstellung eines solchen Kriteriums eröffnet.
  2. Aus der rein logischen Natur der arithmetischen Schlußweisen folgt keineswegs die rein logische Natur der damit erschlossenen Sätze. Wäre dies so, so könnte jede Wissenschaft, die sich systematisch streng nach mathematischem Muster aufbauen ließe, in bloße Logik aufgelöst werden.

Was ist bis hierher gezeigt worden? Anders als der Neukantianismus (im engeren Sinne) ist der Neofriesianismus eine nachkantianische Richtung, die aus der Geistesverwandtschaft zwischen Fregeschem und Kantischem Denken Konsequenzen zu ziehen beabsichtigte. Bei allen Differenzen ging die Wertschätzung für Frege immerhin so weit, daß er von Nelson für wert erachtet wurde, in den Kreis der Neofriesianer aufgenommen zu werden, und daß ihm durch entsprechende Gestaltung des Programms die Möglichkeit eröffnet wurde, der geplanten Gesellschaft beizutreten.

Wir haben nun zu prüfen, ob die Inbeschlagnahme Freges durch Nelson mit der Ähnlichkeit der philosophischen Ansätze gerechtfertigt werden kann, oder ob sie nur auf einer Anmaßung des Neofriesianers beruht. Ein detaillierter Vergleich kann hier nicht geleistet werden, obwohl sich zahlreiche Gemeinsamkeiten z.B. hinsichtlich der ausgezeichneten Stellung der Euklidischen Geometrie gegenüber der nicht-Euklidischen oder der Begründung des Induktionsverfahrens zeigen würden. Es könnte auch die Kluft zwischen der Einordnung Freges als Neukantianer und den Platonischen Elementen seiner Philosophie salomonisch geschlossen werden, hat doch Nelson Fries als kritischen Kantianer präsentiert, der zugleich Platoniker war. In der Person von Fries fänden wir demnach einen Beleg für die von Gabriel behauptete Kompatibilität beider Ansätze (vgl. Gabriel 1986, 96-101).

Ein gängiges Argument gegen die Fries-Nelsonsche Philosophie ist der Psychologismusvorwurf. Wenn dieser Vorwurf berechtigt wäre, liefe dies auf eine abzulehnende Anmaßung des Psychologisten Nelson hinaus, den Antipsychologisten Frege für seine Zwecke zu vereinnahmen. Der Psychologismusvorwurf an Nelson wird heute sogar in Kreisen erhoben, die sich der Pflege und Beförderung seiner Philosophie verschrieben haben. Zu den wesentlichen Anliegen der heutigen Nelsonianer gehört es nämlich, die Gründe zu bestimmen, warum Nelson gegenwärtig nicht als kanonischer Philosoph gehandelt wird. Horst Gronke bemerkt dazu u.a. (1998, 95):

    Ein Hauptproblem für die günstige Rezeption von Nelsons Philosophie stellte von Anfang an deren Begründungsverfahren der psychologischen Deduktion dar. Dieses Verfahren, das Nelson von Fries geerbt hat, und das jener aus unvorsichtigen Äußerungen Kants, in denen dieser von Vernunft als einem "Vermögen" (anstatt einer Sinn- und Geltungsinstanz) spricht, übernommen hatte, war schon obsolet geworden, bevor es sich in der philosophischen Landschaft etablieren konnte. Die Psychologismuskritiken, die Gottlob Frege und Edmund Husserl um die Jahrhundertwende entfaltet hatten, waren und sind noch so überzeugend, daß ein Festhalten am Verfahren der psychologischen Deduktion allein mit einer Ignoranz gegenüber den darin geäußerten Argumenten zu erklären ist. Hier stellte sich Nelson selbst ins Abseits des aktuellen Diskussionsstandes.

Da Nelson die Psychologismuskritiken von Frege und Husserl durchaus gekannt hat, sollte seine Position geprüft werden, bevor ihm Ignoranz unterstellt wird.

Fries und Nelson bearbeiten in ihrer theoretischen Philosophie das Kantsche Problem der Begründung der Metaphysik als Wissenschaft, Metaphysik verstanden als System der synthetischen Urteile a priori aus reinen Begriffen (Nelson 1908, § 49). Kants Problem "Wie sind synthetische Urteile aus reinen Begriffen möglich?" leitet ihre Untersuchung. Dieses Problem wird oft mit dem Erkenntnisproblem verwechselt, also mit der Begründung der objektiven Gültigkeit der Erkenntnis. Das Erkenntnisproblem ist aber für Nelson nicht zirkelfrei lösbar, was ihn dazu veranlaßt, die Erkenntnistheorie insgesamt für unmöglich zu erklären.

Mit Kants Problemstellung, so Nelson, ist die Zurückführung der metaphysischen Urteile auf unmittelbare, aber nicht anschauliche Erkenntnisse gemeint. Da diese Erkenntnisse den letzten Grund alles metaphysischen Wissens enthalten, wäre mit dem faktischen Aufweis des Grundes der Vorgang der Begründung aller metaphysischen Erkenntnis schon abgeschlossen. Der Begründungsakt in der anthropologischen Vernunftkritik bedient sich der inneren Erfahrung, also eines Vermögens, das uns eine Erkenntnis vom faktischen Vorhandensein von Erkenntnissen liefert (§ 53). Diese Kritik als Wissenschaft aus innerer Erfahrung, die bei Fries anthropologische Vernunftkritik heißt, beruht natürlich auf einer psychischen Vorgehensweise. Das psychologisch-kritische Verfahren legt als Begründungsverfahren die philosophischen Grundsätze offen. Die Grundsätze selbst sind aber apriorisch, sie können daher nicht in der Erfahrung liegen. Die Kritik kann also nicht den Grund der philosophischen Grundsätze enthalten, sie kann ihn nur aufweisen. System und Kritik sind, wie Nelson betont, ungleichartig. Grund, d.h. apriorischer Grund, und Begründung, also psychologisch-empirische Begründung, müssen unterschieden werden. Diese Unterscheidung nimmt die Friessche Gegenüberstellung von Beweis und Deduktion wieder auf und findet sich auch in der Kantisch-Neukantianischen Opposition von Genese und Geltung.

Ist nun das Fries-Nelsonsche Begründungsverfahren psychologistisch? Da es sich bei dem Begriff "Psychologismus" um einen nicht eindeutig bestimmten Kampfbegriff handelt, läßt sich keine eindeutige Antwort geben. Legt man das Klassifikationsschema von Matthias Rath für die diversen Psychologismen zugrunde, so handelt es sich bei der Fries-Nelsonschen Vernunftkritik um eine Spielart des attributiven Psychologismus, in der für spezifische Probleme in philosophischen Teildisziplinen Lösungen mittels der Psychologie angestrebt werden. Keineswegs handelt es sich aber um einen substitutiven Psychologismus, also um eine Richtung, in der die Psychologie als Grundwissenschaft der Philosophie und damit aller Wissenschaften angesehen wird (Rath 1994, 314). Es ist aber dieser substitutive Psychologismus, gegen den die Psychologismuskritiken von Frege und Husserl zielen. Daher läßt sich auch Gert Königs und Lutz Geldsetzers Freispruch Fries' vom Psychologismusvorwurf auf Nelson übertragen. Jetzt wird verständlich, warum Nelson so ganz unbefangen von Freges "im allgemeinen einwandfreie[r] Polemik gegen das was er ,psychologische Logik` nennt" (1908, 169) spricht. Gleichwohl kritisiert Nelson, daß auch Frege nicht frei vom Fehler der Verwechslung von Grund und Begründung war. Er bezieht sich insbesondere auf die Stelle in den Grundgesetzen der Arithmetik (1893, XIX), wo Frege schreibt: "Ich halte es für ein sicheres Anzeichen eines Fehlers, wenn die Logik Metaphysik und Psychologie nötig hat, Wissenschaften, die selber der logischen Grundsätze bedürfen. Wo ist denn hier der eigentliche Urboden, auf dem alles ruht?" Nelsons Kritik lautet wie folgt (1908, § 60):

    Der Satz: "die Logik hat Psychologie nötig" ist zweideutig. Denn die Frage ist: Wofür hat die Logik Psychologie nötig? Für die Begründung oder für den Grund ihrer Sätze? Diese Zweideutigkeit versteckt sich hinter dem bildlichen Ausdruck "Urboden".

    Frege sieht offenbar in dem Versuch einer psychologischen Begründung der Logik einen Zirkel. Und in der Tat setzt die Psychologie bereits ihrerseits die logischen Grundsätze voraus. Dieser Umstand würde jedoch nur dann einen Zirkelschluß in der Begründung zur Folge haben, wenn diese Begründung ein Beweis sein sollte; denn nur in diesem Falle würde der Grund der logischen Sätze in der Psychologie liegen, und die logischen Gesetze würden zu Folgesätzen der Psychologie gemacht.

5 Kan­ti­a­ner oder Neu­kan­ti­a­ner?

Es scheint mir plausibel zu sein, daß Frege die dominierende Philosophie seiner Zeit, also die Neukantianische Philosophie rezipierte und bei der Auswahl relevanter Werke möglicherweise durch seinen Jenenser Umgang beeinflußt wurde. Sein auf die Mathematikbegründung ausgerichtetes philosophisches Programm paßt jedoch nicht bruchlos zu den wichtigsten Neukantianischen Philosophien. Hier scheinen mir trotz beeindruckender Übereinstimmungen die Differenzen insbesondere bezüglich des logizistischen Programms zu überwiegen.9

Meine Untersuchungen zeigen, daß es den Proponenten eines Neukantianismus Freges allenfalls gelingt, über den Nachweis eines Neukantianismus der Stufe (5) einen solchen der Stufe (4) plausibel zu machen. Wenn aber nur gezeigt ist, daß Frege von Elementen Neukantianischer Philosophie beeinflußt worden ist, was ist damit für die Reichweite der Kennzeichnung "Frege als Neukantianer" gewonnen? Es ist gezeigt, und dies ist für den Kontext der Frege-Forschung von großer Bedeutung, daß Frege keine isolierte Figur war, die ihre philosophischen Ansätze in genialer Weise ohne Bezug auf zeitgenössische Philosopheme erarbeitet hat. Man kann diese Anbindung an die Philosophie der Zeit Neukantianismus (im weiteren Sinne) nennen, dies hat aber nur wenig Wert. Frege war genauso weit Neukantianer wie Wilhelm Dilthey, Max Weber, Ernst Troeltsch oder Georg Simmel, die alle enge Beziehungen zu Neukantianern unterhielten, oder gar wie Edmund Husserl, der stark von Paul Natorps Schriften über das Verhältnis zwischen Philosophie und Psychologie beeinflußt war.10 Hinsichtlich eines Neukantianismus der Stufe (2), also der Vereinnahmung Freges durch Neukantianer, verdeckt die Kennzeichnung "Frege als Neukantianer" die eigentlich interessanten Vorgänge. Die in der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts beginnende Frege-Rezeption muß im Zusammenhang mit der durch die Entdeckung der logisch-mengentheoretischen Antinomien ausgelösten Grundlagendiskussion gesehen werden, in der sich den Mathematikern die Relevanz der Philosophie der Mathematik ganz anschaulich in der Absurdität des Versuchs offenbarte, Widerspruchsfreiheitsbeweise mit Hilfe einer als inkonsistent erwiesenen Logik führen zu wollen. Die Konjunktur der Philosophie der Mathematik wirkte zurück auf die Philosophie und damit wurde auch Freges Philosophie von Philosophen zur Kenntnis genommen.

Nelsons Affinität zu Frege mag in seiner Vertrautheit mit der mathematischen Grundlagendiskussion der Zeit begründet liegen, die er sich als Philosoph der Göttinger Mathematiker um David Hilbert erworben hatte (vgl. Peckhaus 1990). Nelson fand seinen Weg zu Frege über die Göttinger Antinomiendiskussion, und er lieferte, daran sei erinnert, im Jahr 1908 mit seinem Schüler Kurt Grelling eine der ersten philosophischen Auseinandersetzungen mit dem Antinomienproblem (Grelling/Nelson 1908), in der auch erstmals Freges ``way out'' diskutiert, die wissenschaftstheoretischen Implikationen der Antinomien behandelt und über die Formulierung neuer semantischer Antinomien ("Grellingsche Antinomie") die außermathematische Tragweite dieser Antinomien offengelegt wurde (vgl. Peckhaus 1995).

Frege als Neukantianer zu bezeichnen erscheint mir bei der hier diskutierten Sachlage als irreführend. Er war ein eklektischer Kantianer, dessen Beeinflussung durch die aristotelisch-scholastische Tradition nicht ignoriert werden sollte (vgl. Angelelli 1967, 1993, 392).

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Anmerkungen:

1 Dummett 1991, viii. Sluga hatte Dummetts monumentale Studie über Freges Sprachphilosophie (Dummett 1973) als Beleg für seine Behauptung präsentiert, daß die Analytische Philosophie ihre eigene Geschichte mißverstehe, weil sie die Originalität der Fregeschen Philosophie überbetone und deren Beeinflussung durch Hermann Lotze ignoriere (Sluga 1980, 4-6).

2 Vgl. vor allem Gabriels wegweisende Studie "Frege als Neukantianer" (Gabriel 1986) sowie seine Untersuchungen zum Verhältnis zwischen Frege und Lotze (Gabriel 1989a, 1989b).

3 Nelson 1905. Zur Auseinandersetzung zwischen den Anhängern Nelsons und dem Marburger Neukantianismus repräsentiert vor allem durch Ernst Cassirer vgl. Peckhaus 1990, 197.

4 Windelband 1907, 187. Vgl. auch die ähnlich lautende Kritik in Windelband 1912, 33. Dort spricht Windelband von Einschränkungen der Schlußtheorie auf Gleichheitsverhältnisse zwischen Begriffsinhalten und Begriffsumfängen im logischen Kalkül.

5 So wurde er z.B. von Traugott Konstantin Oesterreich als "logizistisch-methodologische" Richtung in den von ihm bearbeiteten Auflagen des "Ueberweg" besprochen (vgl. Oesterreich [Hg.] 1923, 434-449).

6 Leonard Nelson berichtete in einem Brief vom 21. April 1904 an den Mathematiker Gerhard Hessenberg über eine Jena-Reise, die ihn mit Alexander Rüstow auf die Spuren von Fries führte: "Eggeling ist hier Curator der Universität, also nicht ohne großen Einfluß [...]. Er vertritt durchaus die Philosophie seines Großvaters, u. zwar nicht aus Familienpietät, sondern mit vollem Verständnis u. gründlicher selbständiger Überzeugung"; Brief Nelsons an Hessenberg, dat. Jena, 21. April 1904, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Nachlaß Nelson, Sign. N 2210, Nr. 389, Bl. 26.

7 Brief Nelsons an Hessenberg, dat. Göttingen, 29. März 1908, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Nachlaß Nelson, Sign. N 2210, Nr. 389, Bll. 170f.

8 Bei der Beurteilung dieser Differenzen ist zu berücksichtigen, daß Nelson die Kantische Unterscheidung zwischen analytischen und synthetischen Urteilen ohne Modifikationen übernimmt, während Frege gegen die Eingeschränktheit des Kantschen Analytizitätsbegriff argumentiert (siehe Frege 1903, § 88). Vgl. zu dieser Problematik Ruffino 1991, bes. 186.

9 Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch Walter Zeidler in seiner Kritik an Gabriels Behauptung, "daß Freges erkenntnistheoretisches Grundposition diejenige des Neukantianismus ist" (Gabriel 1986, 84ff.). Zeidler kommentiert (1995, 194f., Fn. 12): "Diese These erscheint allerdings etwas überzogen: solange Freges ,erkenntnistheoretische Grundposition` in seinem logizistischen Programm aufgeht [...], kann man wohl nur von neukantianischen Topoi sprechen, die hinter diesem Programm stehen." Mit Bezug auf Hönigswalds Brief an Frege vom 24. April 1925 (Frege 1976, 84f.) bemerkt Zeidler, daß Frege zum Neukantianer allenfalls in seinem letzten Lebensjahr wird, in dem er unter Absage an das logizistische Programm "eine Wendung von der Logik zur ,Erkenntnistheorie` vollzieht".

10 Ich verdanke diese Beispiele Wuchterl 1995, 109-111.