'Nach' Franz Roh. Geschlechterpolitische Revisionen des "Magischen Realismus"
Dissertationsprojekt von Judith Morck. Anschubstipendium der Gleichstellungsbeauftragten. Betreut von Prof. Dr. Claudia Öhlschläger und PD. Dr. Hendrik Schlieper
Der ‚Magische Realismus‘ ist eine literarisch-künstlerische Strömung, bei der realistische Wirklichkeit mit einer magischen Atmosphäre oder wunderbaren Elementen verschmilzt. Ein Beispiel für die Malerei des Magischen Realismus stellt das gedoppelte Selbstbildnis Las dos Fridas der mexikanischen Künstlerin Frida Kahlo von 1939 dar. In ihrem Gemälde wird die durch Auseinandersetzungen und Brüche gekennzeichnete transnationale und transkulturelle Verbindung Europas und Lateinamerikas über den weiblichen Körper verhandelt.
Die Strömung des Magischen Realismus wird 1925 von Franz Roh durch seine programmatische Abhandlung Nach-Expressionismus. Magischer Realismus. Probleme der neuesten europäischen Malerei begründet. Darin beschreibt er die Entwicklung der europäischen Malerei vom abstrakten Expressionismus hin zu einem neuen Verismus. In Deutschland setzt sich für diese Stilrichtung schließlich der Begriff ‚Neue Sachlichkeit‘ durch. Doch Rohs Begriff und Konzept des Magischen Realismus wird weiterhin verbreitet und rezeptiert, zunächst innereuropäisch, schließlich transnational. Über die spanische Zeitschrift Revista de Occidente gelangt Rohs Abhandlung unter dem Titel Realismo mágico. Post expresionismo. Problemas de la pintura europea más reciente nach Lateinamerika. Die lateinamerikanischen Schriftsteller*innen und Künstler*innen greifen sein Konzept unter dem Namen ‚realismo mágico‘ beziehungsweise ‚real maravilloso‘ auf. Doch im Gegensatz zur europäischen Strömung wäre das Wunderbare in Lateinamerika gelebte Realität und nicht nur imaginierte Traumvorstellung. Die Künstler*innen und Schriftsteller*innen grenzen sich so zugleich von der europäischen Strömung des Magischen Realismus sowie von der avantgardistischen Strömung des Surrealismus ab. In Europa wird der Magische Realismus Lateinamerikas aufmerksam wahrgenommen und interpretiert. So gilt das Zusammenspiel der realistischen und der mystischen Welt als Versuch der Lateinamerikaner*innen, sich mit ihrer ‚schwierigen Vergangenheit‘, ihrer ‚identitären Zerrissenheit‘ zwischen Conquista, spanisch-europäischer sowie indigener, vor-conquistadorischer Historie auseinanderzusetzen. Der eurozentrische Blick der Literaturwissenschaft ist nicht zu übersehen. Daher muss der Magische Realismus und die bisherige Forschung zu diesem stets kritisch betrachtet werden.
Mit dieser transkulturellen Verschiebung treten unmittelbar auch geschlechterpolitische Revisionen in Kraft. Der Magische Realismus ist, ebenso wie andere Kunstströmungen, keine rein männliche Kunst, wie es die patriarchale Literaturgeschichtsschreibung lange Zeit darstellte. Die feministische Literaturwissenschaft ist seit dem Ende des 20. Jahrhunderts dabei, die weiblichen Traditionslinien des Magischen Realismus aufzuarbeiten, ebenso die der LGBTQ+ Community. Obwohl der Begriff des Magischen Realismus ausgehend von Franz Roh nach Lateinamerika gelangte, wurde dessen durch einen „männlicheren Wirklichkeitswillen“ geprägtes Kunst- und Geschlechterverständnis bisher nicht näher untersucht. Doch gerade seine ins Spanische übersetzte Abhandlung Nach-Expressionismus ist für die weitere Entwicklung des Magischen Realismus, zunächst in Lateinamerika und später weltweit, von Interesse. Die Begriffsprägung, der transatlantische Begriffstransfer und dessen initiale lateinamerikanische Rezeption werden eindeutig von männlichen Sichtweisen und Autoren verantwortet. Einerseits gehen damit stets bestimmte, kritisch zu betrachtende Geschlechterphantasmen einher, andererseits sind es häufig gerade Künstlerinnen, die das Konzept verändern und produktiv voranbringen, wie am Beispiel von Frida Kahlos Las dos Fridas sichtbar wird. Deshalb soll der Magische Realismus, ausgehend von Franz Rohs Konzept von 1925, einer kritischen Betrachtung der Geschlechterperspektive unterzogen werden, denn gerade diese Perspektive auf die Werke Franz Rohs eröffnet einen interessanten Blick auf die Entstehung des Magischen Realismus in Lateinamerika.
Ein Erkenntnisinteresse der Dissertation besteht darin, zu überprüfen, ob und wie sich der Blick auf den Magischen Realismus durch eine neue geschlechter- und medienkomparatistische Betrachtung der Studien Franz Rohs sowie einen Vergleich mit der internationalen Entwicklung des Magischen Realismus bis zur Gegenwart verändert. Durch die geschlechterpolitischen Revisionen des Magischen Realismus soll gezeigt werden, wie die Künstlerinnen die Kunstströmung über die Abwandlung von Geschlechtercodes neu interpretieren und dadurch produktiv voranbringen.