Die Geburt der zivilen Tragödie: Geschlechterpoetik bei Johann Christoph Gottsched

Der Begriff des zivilen Klassizismus dient jüngeren dramenhistorisch interessierten Studien zum 18. Jahrhundert unter anderem als Korrektiv, um eine bisher primär sozialgeschichtlich hergeleitete Frontstellung der klassizistisch-ständischen Tragödie heroisch-politischer Prägung der ersten Jahrhunderthälfte und des bürgerlichen Trauerspiels Lessings ab 1755 einer Revision zu unterziehen, die bis heute merklich Einfluss nimmt auf Narrative der Dramengeschichtsschreibung zwischen ‚Absetzung‘, ‚Überwindung‘, ‚Kahlschlag‘ und ‚Fortschritt‘. Obschon die Begrifflichkeit seit ihrer Einführung in den dramenhistorischen Diskurs durch Wolfgang Proß in den späten 1980er Jahren im deutschsprachigen Raum erst auf Lessings Dramatik bezogen wird, machen seine Bedeutungsdimensionen einen Transformationsprozess beschreibbar, der bereits in der frühausfklärerischen Gattungskonzeption bei Johann Christoph Gottsched seinen Ausgang nimmt. Bezieht man den Begriff in einem gattungsspezifisch engeren Sinn a priori auf die Transformationen der Tragödie in dieser Zeit, so erlaubt der innerhalb des Projekts erkenntnisleitende Terminus der zivilen Tragödie eine systematische Beschreibung der Gattungsentwicklung ausgehend von einem sich transformierenden Ethos der antikisierenden klassizistischen Tragödie zu einem genuin menschlichen Ethos in der Tragödie der Aufklärung. Jenes Ethos der zivilen Tragödie als Transformation eines heroischen, ständischen Verhaltensmaßstabs, wie ihn antike und (staats-)klassizistische Poetiken zur Voraussetzung der Gattungskonstitution erheben, gewinnt im deutschen Sprachraum zunächst innerhalb der Tragödien(-poetik) Gottscheds Kontur, bleibt jedoch auch über die Jahrhundertmitte hinaus zentrales Konstituens des Aufklärungsdramas.

Insbesondere auf der Grundlage des Zusammenwirkens der Kategorien Gattung und Geschlecht in den tragödienpoetologischen Schriften und in den Tragödien der Literaten, das im Rahmen des Projekts mit dem methodologischen Begriff ‚Geschlechterpoetik‘ gefasst wird, lassen sich produktive Aneignungen sowohl der antiken Gründungstexte als auch ihrer Reaktualisierungen im französischen Klassizismus des 17. Jahrhunderts identifizieren, die eine 'Zivilisierung' der Gattung und ihre Ethos erkennen lassen. Wird bereits in der aristotelischen Poetik über die Kategorien Figur und Handlung ein wirksamer Zusammenhang von Gattung und Geschlecht etabliert, der die Tragödie als "Staats- und Heldenaktion" normativ an einen männlichen oder zumindest männlich agierenden Helden bindet, beruht die Transformation der heroisch-politischen Tragödie als deren klassizistische Fortschreibung zur zivilen Tragödie um und nach 1700 augenscheinlich im Wesentlichen auf einer ideologischen Verzahnung eines zivilen, d.h. allgemeinmenschlichen Ethos und Weiblichkeit. Die Aushandlung des Verhältnisses von Gattung und Geschlecht in der Tragödie um und nach 1700 erweist sich dergestalt als bedeutsame Triebfeder gattungsspezifischer Transformationen, die im Kontext der Geschlechterdiskurse und der moralphilosophischen Debatten der Zeit in ihren jeweiligen Wechselwirkungen betrachtet werden müssen. Dabei sind nicht nur die dezidiert auf Aristoteles respektive auf antike Poetiken sich berufenden tragödienpoetologischen Schriften zu berücksichtigen, vielmehr erweisen sich die (mitunter in Anthologien zusammengefassten) Originaltragödien selbst als virulente Verhandlungsorte impliziter und praktischer Poetiken.

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Dr. Leonie Süwolto

Komparatistik/Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft

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