Kul­tur­po­li­ti­ken

Das Projekt geht aus von zwei seit langem bekannten, indes in ihrer Bedeutung bis jetzt nicht umfassend erarbeiteten Momenten der französischen Kultur des 17. Jahrhunderts, nämlich zum einen der allgemeinen Hinwendung zum Häuslich-Privaten und zum anderen speziell der Einführung der Liebe als Handlungsmotivation im Theater. Bereits Guez de Balzac unterschied in den ersten beiden Discours seiner 1645 publizierten Œuvres diverses systematisch zwischen dem Bereich des Öffentlichen, in dem sich der Römer als staatstragender, politisch handelnder Akteur präsentiert, und dem Bereich des Häuslich-Privaten, in dem das gesellige Miteinander der Geschlechter gepflegt wird. Hierdurch reaktualisiert er die tradierte Unterscheidung von negotium und otium, indem er sie konkret architektonisch wendet, den neu entstandenen sozialen Raum regelrecht ausfaltet und diesen somit als allererst noch in der kultivierten heterosexuellen Interaktion zu gestaltendem Raum im Haus einer Familie ausweist. Weitgehend zeitgleich zu dieser Herausbildung neuer sozialer Räume kommt es zur Einführung der Liebe in die Tragödie (> Liebestragödie), die auf diese Weise den tradierten Fokus auf die Staats- und Heldenaktionen radikal erweitert. Hat sich die Forschung zum Theater bis dato weitgehend auf diejenigen Modelle und Probleme konzentriert, die aus den Modellierungen der Protagonisten im Rahmen von Staats- und Heldenaktionen resultieren, so dass insbesondere die Problematisierung von Macht, Ehre, Tugend und Heldentum (sowie deren negative, die Tragödie initiierende Varianten wie Gier, Leidenschaft, Rache etc.) im Mittelpunkt standen, untersucht das Projekt diejenigen Modellierungen, die aus der Einführung der Liebe in den dezidiert familiär-sozialen Rahmen der Dramen erwachsen. Dabei werden weitergehend zwei dominante Paradigmen der Dramatik, nämlich die > Hauskomödie sowie die Ehe- und Familientragödie als Modellierungen der Liebestragödie, zum Ausgangspunkt genommen, um zum einen die je spezifischen Problematisierungen in der konkreten Textanalyse herauszuarbeiten und zum anderen anhand eines ca. 100 Jahre umfassenden Zeitraumes die Veränderungen und Binnendifferenzierungen dieser Modelle zu erfassen.

Haus, Fa­mi­lie und Ehe auf der Büh­ne

Das Projekt verfolgt eine dezidiert kulturhistorische Herangehensweise, die aufbauend auf neueren historischen Studien zu Haus, Familie und Ehe in der Frühmoderne die Produktivität spezifisch literarischer Problematisierungen dieser drei bedeutenden Paradigmen im Medium des Theaters reflektiert. Als leitende Überlegung wird hierfür zugrunde gelegt, dass die Herausbildung einer spezifischen französischen Theaterkultur, die dann um 1700 in der so genannten doctrine classique kanonisiert wird, über eine doppelte Auseinandersetzung verläuft. Diese Auseinandersetzung betrifft erstens vorgängige und zeitgenössische Modellierungen von Tragödie, Komödie, Tragikomödie etc., die sowohl in den zahlreichen Querelles diskutiert als auch in der konkurrierenden Dramenproduktion auf dem Theater ausgetragen wird. Hierbei ist insbesondere der internationale Referenzrahmen zu beachten, der durch die Einbindung der italienischen und spanischen Traditionen gegeben ist. Zweitens handelt es sich bei dieser Auseinandersetzung um eine auf Dauer gestellte Problematisierung, die durch die Einführung der Liebe in den familiär-sozialen Rahmen in den 1630er Jahren initiiert wurde und von diesem Zeitpunkt aus die europäische Dramatik (nicht nur) der Frühmoderne in großen Bereichen prägte. Dabei sind sowohl die Kritiken der Theatergegner – zu verweisen ist u.a. auf die lange andauernde Querelle de la moralité du théâtre – zu beachten als auch die Wandlungen, denen Haus, Familie und Ehe im langen 17. sowie zu Beginn des 18. Jahrhunderts unterworfen sind, die immer neue Formen des theatralen ,Durchspielens‘ ermöglichen, aber eben auch erfordern. Hierfür wird die konkrete These diskutiert, dass die Figuren der > Hauskomödie und Familientragödie (> Müttertragödie) gerade aufgrund der mehrfachen Ansprüche an sie, etwa als Familienvater, Herrscher, Held und Ehemann in der Tragödie (bzw. analog: Herrscherin, Familienmutter, Ehefrau) bzw. als Hausvater, Untertan, Ehemann und ‚Geschäftsmann‘ (analog dazu: Hausherrin, Ehefrau, Mutter) in der Komödie in tragische und/oder komische Konflikte geraten, die aus ebendiesem mehrfachen Subjektstatus resultieren. Dergestalt gilt es, die mehrfachen sozialen und kulturellen Rahmungen der Protagonisten und ihrer Handlungen für die jeweilige Textanalyse und die dadurch sichtbar werdenden historischen Formationen fruchtbar zu machen.

Zugrunde gelegt wird hierfür, dass im Sinne eines weiter gefassten Konzepts von Kulturpolitik nicht nur sozialen Transformationen in den Gattungen und Werken sichtbar werden, sondern dass gesellschaftliche Wandlungen gleichermaßen angeregt und reglementiert werden können in den einzelnen Theaterkulturen, wobei einzelne Autor*innen keineswegs für das eine oder andere optieren müssen, sondern ihre Kompetenz möglicherweise auch dadurch ausstellen, dass sie beides auf der Bühne durchspielen können. In der École des femmes präsentiert etwa Molière den glücklich endenden Konflikt zwischen dem anachronistischen Hausvater Arnolphe, der einem veralteten Haus- und Ehedenken das Wort redet, und den jungen Liebenden, Horace und Agnès, die für die neue, galante Liebe einstehen. In der im Rahmen des Grand Divertissement royal 1668 in Versailles uraufgeführten Balletkomödie Georges Dandin setzt Molière hingegen einen reichen Landmann in Szene, der eine junge Adelige heiratet, um zu Ansehen zu kommen, aber von den Eltern der Braut wie auch von anderen Adeligen nicht nur als nicht gleichgestellt angesehen wird, sondern aufgrund seines ungebührlichen Strebens regelrecht bestraft wird zur Belustigung des anwesenden Hofadels. Systematisch gesprochen ergibt sich daraus zum einen das Zusammenspiel von Gattung und Geschlecht, insofern jede Gattung resp. jedes Genre den Stand der Figuren genauso zu beachten hat wie das betreffende Geschlecht, da sich zum einen die Frage stellt, wie jeweils ein galant homme und eine galante dame in einem Drama handeln müssen, um als solche (wieder)erkannt zu werden, wie sich auch die Frage stellt, in welchen theatralen Gattungen und Genres sie überhaupt handeln dürfen. Einfacher gesagt: Sind diese beiden sozialen Figuren überhaupt komödienfähig und wenn ja, unter welchen Bedingungen, oder sind sie allein der Tragikomödie oder der Tragödie vorbehalten? Zwei Momente, die aus der bisherigen Projektarbeit hervorgegangen sind, verdeutlichen die Produktivität des Ansatzes:

  • Gattungstheorien fokussieren dominant überzeitliche Kriterien, um ein bestimmtes Werk einer spezifischen Gattung eindeutig zuordnen zu können, wie auch umgekehrt die deutliche Konturierung einer Gattung über solche Kriterien mit dem bewussten Ausschluss von hybriden Formen einhergehen können, so dass sie die Grundlage legen können für Kanonisierungsprozesse, wie sie etwa mit der bereits genannten doctrine classique einhergehen. Demgegenüber konzentriert sich die Projektarbeit auf heuristische Modelle wie die > Hauskomödie oder die > Liebestragödie, um deren Wandelbarkeit und damit Produktivität herauszuarbeiten. Es gibt folglich nicht die Hauskomödie, sondern ein rinascimentales Modell der Hauskomödie, die das etwa Ariostos Komödien einstehen können, und ein galantes Modell der Hauskomödie, die das Molières Lustspiele einstehen können; gleiches betrifft die Hauskomödie um 1700, etwa eines Regnard, das wiederum einer ganz eigenen Ordnungslogik folgt. Dabei besteht etwa die besondere Leistung Molières darin, dass er zwischen einer eher ständisch-bürgerlichen Hauskomödie wie der École des femmes, mit einem dysfunktionalen, den Untergang des eigenen Hauses in Kauf nehmen Hausvaters als Protagonisten und höfisch-adeligen Familienkomödie wie der Princesse d’Élide mit einem die galante Liebesethik propagierenden, vorbildlichen Familienvater als Akteur unterscheidet und dies je nach Spielort – Paris und/oder Versailles – bewusst auf die Bühne bringt.
  • Soziale Transformationen können zudem wahlweise von den Theaterkulturen begleitet werden oder in diesen auf gänzlich eigene Weise produktiv werden, ohne dass es notwendigerweise ein Analogon in der sozialhistorischen Wirklichkeit geben muss – Theater ist dann Vorahmung und eben nicht Nachahmung von Handlungen von Menschen. Augenfällig wird dies im Rahmen der Theaterkulturen etwa in der Einführung eines neuen Typus der ‚starken Frau‘, die im Gegensatz zur tradierten starken Frau nicht auf die Entmachtung des herrschenden Mannes zur Durchsetzung eigener Machtansprüche abzielt, sondern auf die Stärkung eines temporär entmachteten und/oder ohnmächtigen Mannes, indem sie ihn die legitimen Ansprüche an ihn vorhält oder mit ihrem eigenen, starken Verhalten einen Richtschnur für sein Handeln gibt, so dass er sich erneut zu einem männlichen, starken Mann bildet. Diese Modellierung der ‚guten Frau‘, der bonne femme, betritt insbesondere im Rahmen von Tragödien bzw. genauer > Müttertragödien die Bühne – so in Racines Andromaque – doch ist sie weder auf diese Gattung noch auf die französische Theaterkultur festgelegt, vielmehr wird sie nach 1700 zu einem kontinentaleuropäischen Orientierungspunkt, die neue, gemäß den einzelnen Theaterkulturen modellierte Figuren hervorbringt, wie die Merope des Scipione Maffei oder die Panthea der Gottschedin.

Diese Verbindung von Kulturpolitik, Familien- und Geschlechterpolitik und poetologischer Reflexion kann zum einen in eine veritable > Geschlechterpoetik münden, die sowohl explizit in den Poetiken der Zeit diskutiert wird als auch implizit in den betreffenden Dramen durchgespielt wird. Zum anderen plausibilisiert sie Diskussionen und Debatten, die ohne diesen Hintergrund zum Teil nur schwer bis nicht verständlich bleiben, wie etwa die umfangreiche Diskussion um das unangemessene, da die Grenzen der Schamhaftigkeit verletzenden Handeln einer Chimème in Pierre Corneilles Cid oder einer Agnès in Molières École des femmes. Denn die Frage nach der Angemessenheit bezieht sich hier gleichermaßen auf das aptum, mithin auf den Redegegenstand, so dass sich die Frage nach der Handlung im Rahmen einer bestimmten Gattung stellt, und auf das decorum, die Redeweise, die je nach Gattung und Geschlecht des Sprechenden ebenfalls je eigene Regeln kennt. Ersichtlich wird hierbei schließlich, dass mehrere Poetiktraditionen bedacht werden müssen für die Rekonstruktion des Zusammenspiels von Gattung und Geschlecht im Rahmen einer übergeordneten Kulturpolitik, da die Poetiken des Aristoteles und des Horaz durchaus unterschiedliche Kategorien verwenden und damit verbunden auch Zielsetzungen haben, wie auch die rhetorische Tradition der Poetik bis weit ins 18. Jahrhundert hinein ihre Wirkmacht beibehält und immer neu entfaltet. Johann Christoph Gottscheds Versuch einer Critischen Dichtkunst behauptet zwar, an der aristotelischen Poetik ausgerichtet zu sein, eingeleitet wird sie jedoch von einer Übersetzung der Ars poetica des Horaz, wodurch die genauso produktive wie spannungsreiche Verbindung von Poetiken ausdrücklich namhaft gemacht wird.