The­a­ter­trans­fer

Sahra Puscher

Das Konzept des Theatertransfers geht von der schlichten Beobachtung aus, dass in der Frühmoderne dramatische Werke – Komödien, Opern oder Tragödien –, die an einem spezifischen Schauplatz uraufgeführt wurden, sich im Falle ihres Bühnenerfolgs relativ schnell in verschiedenen Kulturen verbreiteten. Der Theatertransfer denkt in diesem Zusammenhang zwar die zahlreichen Reisen von Theater- und Operngruppen mit, die ihre im Repertoire befindlichen Stücke an verschiedenen Schauplätzen inszenierten und hierbei gelegentlich die zugrunde liegenden Texte veränderten, fokussiert indes dominant die konzeptionelle Ebene der Transfers, die sich in den spezifischen Modellierungen der Dramen zeigt. Denn die jeweiligen dramatischen Texte bildeten nicht nur die Grundlage für die diversen Inszenierungen, sondern boten auch den Anlass für zahlreiche Debatten, die wahlweise unmittelbar an das Drama gebunden waren oder mittelbar dazu führten, dass diese Dramen als vorbildliche Modelle angesehen wurden, die als Grundlage fungierten für neue, dem betreffenden Schauplatz entsprechenden ‚Originalstücke‘. Kann die Auseinandersetzung von Scipione Maffei und Gotthold Ephraim Lessing mit Pierre Corneilles Tragödie Rodogune als Beispiel für eine unmittelbare, kritische Auseinandersetzung verstanden werden, bilden die zahlreichen > Hauskomödien nach Molière – im doppelten Sinne der Präposition – in Frankreich (Regnard, Dufresny etc.), aber auch in Italien (Goldoni) und Deutschland (J. E. Schlegel) ein prominentes Beispiel für den zweiten Fall. In den Blick genommen wird entsprechend nicht der wie auch immer geartete Einfluss eines Autors / einer Autorin oder Werkes in einem anderen Kontext, sondern umgekehrt die Aneignung und Anverwandlung von (Erfolg versprechenden) Bühnenwerken durch die Adaption an und Aktualisierung für den jeweils eigenen Schauplatz. Dabei kann die Referenz auf das vorausliegende Originalstück explizit über den Titel gesetzt werden, wie in J. E. Schlegels Tragödie Die Trojanerinnen. Sie kann aber auch über Modifikationen auf die Absetzung gegenüber dem Originalstück verweisen und damit auf die spezifische Eigenleistung hinweisen, wie in J. E. Schlegels Hermann, der bereits durch die Namensgebung die Differenz gegenüber den vorausliegenden französischen Arminius-Tragödien herausstellt. Möglich und besonders produktiv ist schließlich noch die konzeptionelle Aneignung des vorausliegenden Originalstücks, das weder hinsichtlich des Titels noch des Figurenpersonals rückverweist, indes Handlungsstruktur und Konzeption weitgehend übernimmt und entsprechend einen Theatertransfer leistet, der die Akkulturation durch die Produktion eines neuen Originalstücks am neuen Schauplatz vollzieht. Dabei ist zu beachten, dass die jeweiligen Dramen stets als Exempla für spezifische dramatische Modellierungen angesehen werden, die als repräsentativ für einen Kulturraum verstanden werden, wie die Diskussionen um die und Auseinandersetzungen mit der französischen Liebestragödie in Deutschland und Italien zeigen. Im Umkehrschluss ermöglichen diese vielschichtigen Theatertransfers, die an den verschiedenen Schauplätzen auf je eigene Weise kulminieren, die Kulturtopographie des Theaters der Frühmoderne weiter zu präzisieren, insofern bereits die Auswahl der betreffenden Dramen für die jeweiligen Bühnen als Kennzeichen für die jeweilige Kulturpolitik gelten kann, die gleichermaßen für ihre Positionierung wie für ihre Internationalität einsteht, wie etwa die Bühnenregister der Deutschen Schaubühne Gottscheds oder der Wiener Schaubühne evident vor Augen stellen.

Exemplarisch verdeutlichen lässt sich die Bedeutung und Funktion des Konzepts des Theatertransfers anhand der Deutschen Schaubühne, die sowohl als literaturpatriotisches als auch wirkmächtigstes kulturpolitisches Projekt der deutschen Frühaufklärung gelesen werden kann und einen bedeutenden Beitrag zum europäischen Theatertransfer der Zeit leistet. Die von Johann Christoph Gottsched zwischen 1741 und 1745 herausgegebene Dramenanthologie, bestehend aus deutschen Originalstücken und Stücken verschiedener nationalspezifischer Provenienz (Holberg, Racine, Corneille, Addison u.a.), stellt auf struktureller Ebene einerseits einen Experimentierraum bereit, insofern dezidiert Werke deutscher Autor*innen neben die Werke anderer europäischer Autor*innen gestellt werden. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, dass die prominenten deutschen Autor*innen der Deutschen Schaubühne, Johann Christoph Gottsched, Luise Adelgunde Victorie Gottsched und insbesondere Johann Elias Schlegel in ihren Tragödien erstmals Modelle inszenieren, über welche ein dezidiert deutsches Theater für die zeitgenössische Gegenwart etabliert wurde, das zudem über die nationalen Grenzen des spezifisch deutschen Kulturraums hinaus als nachahmungswürdig angesehen wurde. Neben diesem Prozess der nationalspezifischen Selbstpräsentation initiiert das Projekt der Deutschen Schaubühne andererseits zusätzlich einen kulturpolitischen Prozess, indem durch die deutschen Originalstücke dezidiert deutsche Beiträge und somit nationalspezifische Geltungsansprüche im theatereuropäischen Kontext gegenüber anderen europäischen Theaternationen (Frankreich, England, Italien) der Frühaufklärung artikuliert werden.

Im Hinblick auf diese von Gottsched artikulierten kulturpolitischen Bestrebungen nimmt insbesondere Johann Elias Schlegel als Dichter und Dichtungstheoretiker gleich in zweifacher Hinsicht eine produktive Zwischenposition ein und kann dergestalt exemplarisch, dem Impetus einer kulturkomparativen Orientierung folgend, als Schlüsselfigur in Bezug auf die poetologischen, ästhetischen und insbesondere interkulturellen Diskursen der Frühaufklärung gelesen werden, in denen der Begriff des Theatertransfers zur Sichtbarkeit gelangt. Sozialisiert von den poetischen Lehren Gottscheds überführt J. E. Schlegel erstens durch sein poetologisches Wirken das produktionsästhetische und aufklärerische Potential als bikulturelle Programmatik von Deutschland nach Dänemark. Das sich hieraus ergebene wirkungsvolle Wechselverhältnis zwischen deutscher und dänischer Kultur, insbesondere Literatur, gelangt zweitens auf der Ebene der Dramentexte zur produktiven Sichtbarkeit. Exemplarisch steht dabei die Aufnahme J. E. Schlegels als Autor in das Korpus der Deutschen Schaubühne und explizit dessen Tragödie Herrmann für ein deutsches Modell der Tragödie ein, welches sich ausgehend von Gottscheds reformatorischen Einflüssen in Leipzig ab 1743 mit der Umsiedlung J. E. Schlegels von Deutschland nach Kopenhagen produktions- und wirkungsästhetisch transnational nach Kopenhagen ausweitet und dort von J. E. Schlegel in ein Kopenhagener Modell weiterentwickelt wird, wie die letzte Tragödie J. E. Schlegels Canut exemplarisch vorführt. Die Veröffentlichung dieser Tragödie im Jahr 1747 markiert den Endpunkt des Tragödienwerkes J. E. Schlegels und führt zugleich das literarische Modell fort, welches mit J. E. Schlegels Hermann etabliert wurde. J. E. Schlegel besetzt und verdeutlicht somit gleichermaßen die Position eines transkulturellen, bilingualen und – dies ist für eine produktive Annährung an den Terminus des Theatertransfers entscheidend – transnationalen Autors, der durch seine Dramen exemplarisch für einen dezidiert deutschen Beitrag zur Geltungssicherung des deutschen Theaters im kulturhistorischen Theaterkontext des frühen 18. Jahrhunderts einsteht. Somit kultiviert J. E. Schlegel ein deutsches Modell unter den kulturellen Einflüssen seiner neuen dänischen Heimat und leistet so auf der Ebene der Tragödienkonzeption im weitesten Sinne einen Kultur- und im dezidierten Sinne einen Theatertransfer. In dieser kulturellen und kulturpolitischen Transferleistung liegt das wirkungsmächtige Potential J. E. Schlegels Wirken hinsichtlich Gottscheds kulturpolitischem Projekt der Deutschen Schaubühne begründet. Dergestalt wird auch ein dezidiert deutscher Beitrag zu einer zeitgenössischen, internationalen und interkulturellen Diskussion um die Deutungshoheit des europäischen Theaterdiskurses des frühen 18. Jahrhunderts geleistet und das dynamische Verhältnis zwischen Pluralisierung und Autorität, welches das frühe 18. Jahrhundert und dessen kultur- und literaturpolitische Debatten noch nachhaltig prägt, ausgestellt und produktiv nutzbar gemacht.

Ver­fas­se­rin

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Sahra Puscher

Komparatistik/Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft

Wissenschaftliche Mitarbeiterin | Koordinatorin im Bereich Komparatistik/Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft

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Zitationsvorschlag

Puscher, Sahra: „Theatertransfer.“ In: Website des Projekts „Theaterkulturen im klassischen Zeitalter“ des Fachbereichs Komparatistik/Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft der Universität Paderborn. Auf: go.upb.de/theaterkulturen_theatertransfer, 06.05.2022.