Religiöse Sprachentwicklung im Ganztag - Eine Interventiontsstudie
Die Interventionsstudie wurde an der privaten Grundschule des Erzbistums Paderborn St. Michael durchgeführt.
Kooperationspartner für das Projekt waren die Grundschule St. Michael sowie das EGV / Hauptabteilung Schule und Erziehung.
Die Laufzeit betrug 4,5 Jahre (01.01.2019-31.07.2023).
Hilfskräfte: Johanna Nagels, Charlotte Wördemann, Jana Frieler und Stephanie Brokamp.
Religiöse Sprachentwicklung im Ganztag - Grundlagen und Vorgehen
Zu den allgemeinen Kompetenzen, die von den deutschen Bischöfen für den Religionsunterricht festgesetzt wurden, zählt an zentraler Stelle die Kompetenz, religiöse Sprache verstehen und verwenden zu können. D.h., dass die Schülerinnen und Schüler „religiöse Sprachformen (Metaphern, Symbole, Analogien) erkennen und deuten; religiöse Sprachformen sachgemäß verwenden [und] zentrale theologische Fachbegriffe verwenden und erläutern [können]“ (DBK 2004, S. 14). Das Angebot zur Sprachentwicklung in der christlichen Gemeinschaft der katholischen Grundschule St. Michael zielt auf diese Kompetenz. Die Sprache braucht dabei das Wissen um die Wörter und deren Bedeutungen, aber auch deren Nutzung in unterschiedlichen Verstehens- und Erlebenszusammenhängen. Linguistische Studien haben gezeigt, dass das Vorlesen und Spielen die Bildung abstrakter Begriffe – unter die auch religiöse Begriffe fallen – fördert. Das Angebot generiert daher unterschiedliche Erfahrungsräume für die Schülerinnen und Schüler und nutzt Erlebnisräume von beispielsweise biblischen Geschichten, um die christliche Sprache zu entwickeln und zu fördern. Dabei wird die Interventionsstudie von folgenden Fragestellungen geleitet:
- Wie entwickelt sich die religiöse Sprachfähigkeit (christliche Unterrichtssprache) mit der expliziten Sprachförderung in der Grundschule?
- Welche religiösen Begriffe werden in den aktiven Wortschatz übernommen?
- Wie entwickeln sich theologische Konzepte von Schülerinnen und Schülern bezogen auf ihre Mehrdimensionalität, Komplexität und in Bezug zu biblischen Geschichten?
Um Teil der Glaubensgemeinschaft des Christentums zu werden, ist es für Kinder und Jugendliche von entscheidender Bedeutung, die Sprache des katholischen Christentums zu beherrschen. Allerdings wird ihnen immer wieder eine religiöse Sprachunfähigkeit attestiert (vgl. Sitzberger 2013). Der Religionsdidaktiker Tobias Faix stellt beispielsweise heraus, dass die Kinder und Jugendlichen sich nicht mehr der traditionellen christlichen Sprache bedienen (können) (vgl. Faix 2015). Dieses Ergebnis stützten Stefan Altmeyer und Dieter Hermann in einer folgenden Studie mit Kinder im Übergang zum Jugendalter. 35% der Befragten (n = 487) ordnen die Autoren in eine Gruppe die sie „Sprachlose“ nennen ein, da diese keine Worte haben, um über Gott zu sprechen. Die anderen 65% finden eigene Wege über ihr Gottesbild zu sprechen (vgl. Altmeyer, Hermann 2016). Die Religionspädagogin Karin Peter merkt jedoch zu recht an, dass „systematische Erkenntnisse und Reflexionen zu der Generierung bzw. der spezifischen Eigenart einer religiösen Jugendsprache [und Kindersprache; d. Verf.], die über die Darstellung einzelner Unterrichtsstunden und -projekt hinausgehen“ (vgl. Peter 2016, S. 77), kaum zu finden sind. Dieses Desiderat gilt es in der Interventionsstudie mit zu füllen.
Das Vorlesen oder das gemeinsame Lesen von Geschichten fördert die Sprachfähigkeit und die Größe des Wortschatzes von Kindern. Verschiedene linguistische Untersuchungen haben den signifikanten Zusammenhang des Vorlesens und der Sprach- bzw. Begriffsentwicklung bei alltäglichen und abstrakten Begriffen gezeigt (vgl. Housten-Price, Howe, Lintern 2014). Kinder, die an Treatments mit Vorlesesituationen teilnahmen, haben in Wortverständnistests besser abgeschnitten als solche, denen nicht vorgelesen wurde (vgl. Hassinger-Das, Ridge, Parker, Michnik Golinkoff, Hirsh-Pasek, Dickinson 2016). Sie konnten signifikant sicherer eine Definition von alltäglichen und komplexen Begriffen geben, bildliche Repräsentationen zuordnen oder grammatische Nutzungen als angemessen oder unangemessen beurteilen. Selbst Begriffe auf einem Sprachniveau, das das zu erwartende übersteigt, konnten durch diese Vorlesesettings entwickelt und nachhaltig gefestigt werden (vgl. Housten-Price, Howe, Lintern 2014).
Linguistische Studien betonen weiterhin die Bedeutung von Spielen. Spiele lassen einen „flow“ entstehen, der die intrinsische Motivation zu lernen steigert. Die Kinder sind spielerisch aktiv im Umgang mit den neuen Begriffen (vgl. Hassinger-Das, Ridge, Parker, Michnik Golinkoff, Hirsh-Pasek, Dickinson 2016). Idealerweise kombinieren sich hier sprachliche, bildliche und gestenreiche Aufgaben (vgl. Rohlfing, Grimminger, Nachtigäller 2015).
Sprachentwicklung – gerade für abstrakte Begriffe – braucht eine natürliche und emotionalisierte Atmosphäre, in der die Koordinierung der Sprachhandlungen routiniert ist, in der Redundanzen und Bezugnahmen auf Begriffe positiv erlebt werden. Ein emotional aufgeladenes Setting hilft eher Erinnerungen zu schaffen und Sprache zu fördern (vgl. Ponari, Norbury, Vigliocco 2020).
Um den unter Punkt 1 genannten Entwicklungen entgegenzuwirken bzw. den unter Punkt 2 genannten Erkenntnissen Rechnung zu tragen, wurden im Ganztagsangebot der Sankt Michaelsschule im 4. Jahr des Projekts verschiedene AG-Typen etabliert, die wöchentlich von insgesamt 75 Schülerinnen und Schülern besucht werden.
1.) Seit Anfang des Schuljahres 2019/2020 wird das Angebot „Lesen – Sprechen – Erleben“ durchgeführt. Es wurde entwickelt, um mit den Kindern in kleinen Gruppen religiöse Begriffe (wie Treue, Vergebung, Hoffnung, Auferstehung, Seele etc.) und damit auch religiöse Sprache zu entdecken und spielerisch einzuüben. Dafür wird pro Reihe ein Begriff besonders hervorgehoben. Jede Reihe beginnt mit einer biblischen Geschichte, für die der jeweilige Begriff besonders bedeutsam ist. Auf kreative Weise wird unter Verwendung von Hilfsmaterialien (Bodenbilder, Figuren, Requisiten) die Geschichte vorgelesen und durch die Kinder anschließend nacherzählt oder nachgespielt. So wird der gerade fokussierte Begriff für die Kinder ins Spiel gebracht und anfänglich über seine Bedeutung und Aussageabsicht gesprochen. Anschließend folgen unabhängig von der Geschichte weitere Aufgaben, etwa in einem extra für das Projekt entwickelten Workbook, um den Begriff zu vertiefen und neue Perspektiven auf ihn zu gewinnen, zum Beispiel: Was verbinde ich persönlich mit dem Begriff? Welche Emotionen verbinde ich mit ihm? In welchen Handlungsvollzügen finde ich ihn wieder? Wo spielt er in meinem Alltag – etwa in meiner Familie – eine Rolle? Für das Projekt sind damit das Vorlesen und Sprechen über die Begriffe wichtige Pfeiler, aber auch das Basteln, Malen, Performanz und spielerisches Rätseln und Entdecken.
2.) Seit Anfang des Schuljahres 2021/2022 wurde zudem das Angebot der „Bewegten Begriffe“ geschaffen. Auch dieses Angebot nimmt für die Begriffshebung eine biblische Geschichte als Ausgangpunkt, bearbeitet den Begriff aber betont durch Körpersprache und Bewegung, beispielsweise wenn die biblische Geschichte szenisch nachgespielt oder in Standbildern dargestellt wird oder wenn körpersprachlich ausgedrückt wird, welche Emotionen mit dem Begriff verbunden sind. Dieses Angebot bedient sich demnach zusätzlich dem Konzept des Bewegten Lernens, das nach Müller und Obier definiert werden kann mit: „Bewegtes Lernen stellt in unserem Verständnis eine unmittelbare Verbindung zwischen kognitivem Lernen und Bewegung dar. Zielstellungen sind die Erschließung zusätzlicher Informationszugänge durch Bewegung und die Optimierung der Informationsverarbeitung“ (Müller, Obier 2004, S. 104).
3.) Seit Anfang des Schuljahres 2022/2023 werden zudem drei weitere AG-Angebote realisiert. Dazu zählt 1.) die „Schöpfungsgarten-AG“, in der die Schüler/innen unter Berücksichtigung der Schöpfungsgeschichte durch das Gartenjahr hindurch ein Schulgartenbeet gestalten. In der 2.) „Paderquellgebiet-AG“ gehen die Schüler/innen in das nahegelegene Paderquellgebiet und thematisieren die zerstörerische und lebensspendende Kraft des Wassers und beziehen dieses auf christliche Themen wie etwa die Taufe. Und in der letzten der drei neuen Angebote, der 3.) „Magischen-Orte-AG“, erkunden die Schüler/innen in kleinen Exkursionen heilige Orte des Paderborner Stadtgebietes – wie verschiedene Kirchenräume – und beschäftigen sich in diesem Zusammenhang innerhalb des Angebots beispielsweise mit dem Begriff der Eucharistie.
Die einzelnen Angebote werden evaluiert und ggf. dem noch sehr dynamischen Schulentwicklungsprozessen der neugegründeten Schule angepasst.
Literatur
Kohlmeyer, Theresa / Reis, Oliver (Hg.): „Lesen – Sprechen – Erleben“. Das Lese- und Rätselheft für die erste Klasse Religion. Unter Mitarbeit von Alina Lenze, Johanna Nagels und Fabian Potthast, München 2019.
Kohlmeyer, Theresa / Reis, Oliver / Viertel, Franziska / Rohlfing, Katharina: Wie meinst du das? Begriffserwerb im Religionsunterricht, in: Theo-Web. Zeitschrift für Religionspädagogik 19 (2020), H. 1, S. 334-344.
Reis, Oliver / Lenze, Alina / Nagels, Johanna / Potthast, Fabian: Die Bibel als Medium religiöser Sprachentwicklung, in: Büttner, Gerhard / Mendl, Hans / Reis, Oliver / Roose, Hanna (Hg.): Biblische Welten (Religion lernen. Jahrbuch für konstruktivistische Religionsdidaktik, 11), Babenhausen 2020, S. 119-132.
Reis, Oliver (Hg.): „Lesen – Sprechen – Erleben“. Das Lese- und Rätselheft für die zweite Klasse Religion. Unter Mitarbeit von Alina Lenze, Johanna Nagels und Fabian Potthast, München 2020.
Reis, Oliver (Hg.): „Lesen – Sprechen – Erleben“. Das Lese- und Rätselheft zur religiösen Sprachentwicklung 3. Unter Mitarbeit von Alina Lenze, Johanna Nagels und Fabian Potthast, München 2021.
Reis, Oliver / Lenze, Alina / Nagels, Johanna / Potthast, Fabian: Wie sehen sprachsensible Aufgabenstellungen für den Religionsunterricht aus?, in: Altmeyer, Stefan / Grümme, Bernhard / Kohler-Spiegel, Helga / Naurath, Elisabeth / Schröder, Bernd / Schweitzer, Friedrich (Hg.): Sprachsensibler Religionsunterricht (Jahrbuch der Religionspädagogik, 37), Göttingen 2021, S. 160-168.
Reis, Oliver (Hg.): „Lesen – Sprechen – Erleben“. Das Lese- und Rätselheft zur religiösen Sprachentwicklung 4. Unter Mitarbeit von Alina Lenze, Johanna Nagels, Fabian Potthast, Kristina Maurer und Carla Weber, München 2022.
Altmeyer, Stefan / Hermann, Dieter: Mit Freunden über Gott reden... Religiöse Kommunikation vor dem Übergang von der Kindheit zum Jugendalter, in: Altmeyer, Stefan / Bitter, Gottfried / Boschki, Reinhold (Hg.): Christliche Katechese unter den Bedingungen der „flüchtigen Moderne“ (Praktische Theologie heute, 124), Stuttgart 2016, S. 125-142.
Faix, Tobias: Deutungsmuster jugendlicher Spiritualität, in: Faix, Tobias / Riegel, Ulrich / Kunkler, Tobias (Hg.): Theologien von Jugendlichen. Empirische Erkundungen zu theologisch relevanten Konstruktionen Jugendlicher (Empirische Theologie, 27), Berlin 2015, S. 49-70.
Hassinger-Das, Brenna / Ridge, Katherine / Parker, Amira / Michnik Golinkoff, Roberta / Hirsh-Pasek, Kathy / Dickinson, David K.: Building Vocabulary Knowledge in Preschoolers Through Shared Book Reading and Gameplay, in: Mind Brain and Education 10 (2016), H. 2.
Houston-Price, Carmel / Howe, Jodie A. / Lintern, Natalie J.: Once upon a time, there was a fabulous funambulist …: What children learn about the „high-level“ vocabulary they encouter while listening to stories, in: frontiers in psychology (2014), online: doi.org/10.3389/fpsyg.2014.00075.
Müller, Christina / Obier, Marit: Bewegtes Lernen – nur etwas für die „Kleinen“?, in: Zimmer, Renate / Hunger, Ina (Hg.): Wahrnehmen – Bewegen – Lernen. Kindheit in Bewegung, Schorndorf 2004, S. 102-106.
N.N.: Erzbistum betritt Neuland, in: Neue Westfälische v. 19.09.2018
Peter, Karin: Zwischen Sprachlosigkeit, Alltagssprache und Sprache, die über alles hinausführt. Religiöse Sprachentdeckung und Sprachförderung bei Jugendlichen, in: ÖRF 24 (2016), H. 1, S. 73-80.
Ponari, Marta / Norbury, Courtenay Frazier / Vigliocco, Gabriella: The role of emotional valence in learning novel abstract concepts, in: Developmental Psychology 56 (2020), H. 10, S. 1855-1865.
Reis, Oliver / Kohlmeyer, Theresa: Liturgie und Schule in der Partizipationsfalle – Warum das Versprechen von Partizipation an Liturgie und Bildung ein Trugbild bleibt, in: Theo-Web. Zeitschrift für Religionspädagogik 17 (2018), H. 21, S. 248-262.
Rohlfing, Katharina J. / Grimminger, Angela / Nachtigäller, Kerstin: Gesturing in joint book reading, in: Kümmerling-Meibauer, Bettina / Meibauer, Jörg / Nachtigäller, Kerstin / Rohlfing, Katharina J. (Hg.): Learning from picturebooks, Perspectives from child development & literacy studies (Routledge Series in Explorations in Developmental Psychology, 3), London u.a. 2015, S. 99-116.
Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.): Kirchliche Richtlinien zu Bildungsstandards für den katholischen Religionsunterricht in den Jahrgangsstufen 5-10/Sekundarstufe I (Mittlerer Schulabschluss) (Die deutschen Bischöfe, 78), Bonn 2014.
Sitzberger, Rudolf: „Wenn ich in dieser Lage wäre, dann...“ – Sprechen, Lernen, Handeln im Kontext von Dilemmageschichten im Religionsunterricht, in: Büttner, Gerhard / Mendl, Hans / Reis, Oliver / Roose, Hanna (Hg.): Ethik (Religion lernen. Jahrbuch für konstruktivistische Religionsdidaktik, 4), Hannover 2013, S. 76-91.