Kritik - Medi­en - Prax­is

Ring­vor­le­sung

Sommersemester 2023 | dienstags, 18.00-20.00 Uhr (ct) | E2.339

Von der reinen Vernunfttätigkeit Kants (1781/87) über die kritische Theorie (Horkheimer 1937/47) bis zur kritischen Praxis (Foucault 1978) hat die Frage danach, was Kritik und was Praxis sei, eine lange Geschichte. Spätestens mit dem Practice Turn (Schatzki et al. 2000; Schüttpelz et al. 2021) lässt sich eine Verknüpfung von Praxis und Kritik beobachten, die angesichts virulenter Krisen und aktueller gesellschaftlicher Debatten wichtiger denn je ist. Die Ringvorlesung Praxis – Medien – Kritik im Sommersemester 2023 will die alten und neuen Bedeutungen von Kritik und Praxis für die Medienwissenschaft aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten. Unter dieser Prämisse erschöpft sich die Medienwissenschaft nämlich nicht in weltfremder Theorie, sondern kann selbst kritische Praxis sein, – und ebenso kann Medienpraxis kritisch sein.

Formen der medienwissenschaftlichen Medienkritik sind nicht selten eng verzahnt mit beispielsweise Gesellschafts-, Kapitalismus- oder Sozialkritik, womit Medien meist makroperspektivisch in sozio-politische wie ökonomische Zusammenhänge gestellt werden. Bereits die Analyse dieser Zusammenhänge lässt sich aber auch als kritische Praxis beschreiben, sodass ein zentraler Fokus der Ringvorlesung auf der kritischen Medienanalyse und der Analyse kritischer Medienpraktiken liegt. Gleichzeitig wird damit und im Zuge von Latours polemischem Postulat vom „Elend der Kritik“ (Latour 2007) natürlich an Theoriedebatten zur generellen Kritikfähigkeit von solch praxistheoretischen (oder auch mikroperspektivischen) Ansätzen angeknüpft, wie sie insbesondere der angesprochene und sich maßgeblich aus den Science and Technology Studies (STS) speisende Practice Turn innerhalb des Faches initiiert hat. Deshalb soll der Fokus auch nicht alleinig auf einer dezidiert medienwissenschaftlichen Perspektive liegen, weshalb sich die Ringvorlesung explizit für sozialwissenschaftliche und insbesondere auch medienpädagogische Perspektiven öffnen möchte. Denn eben diese theoretischen Diskurse zu den (kritischen) Potentialen praxistheoretischer Ansätze finden in der Erforschung von Praktiken der Medienkritik und Medienkritikfähigkeit ganz konkrete Anwendung in den unterschiedlichsten Handlungsfeldern.

Nicht zuletzt sind Formen der Kritik selbst immer schon medial vermittelt. Dies ist nicht nur Analysegegenstand kritischer Medienwissenschaft, sondern ermöglicht auch kritische, aktivistische oder subversive Medienpraktiken zuallererst, was sich z.B. in alternativen oder auch queeren Nutzungsweisen (z.B. Lingel 2017) von Medien zeigt , die gängige Vorstellungen von dem, was möglich ist, unterlaufen. Daher möchte die Ringvorlesung nicht nur aus einer medienwissenschaftlichen Perspektive das Verhältnis von Medien, Praxis und Kritik ausloten, sondern darüber hinaus auch mit künstlerischen bzw. politischen Praktiken der Kritik in den Dialog treten.

Ter­mine

18.04.2023 | 18.15 Uhr | E2.339

Third MissionPublic ScienceTransdisziplinäre Forschung - alle Ansätze hinter diesen neu aufkommenden Schlagworten eint der Anspruch, wissenschaftliche Forschung und Lehre stärker mit der Gesellschaft zu verbinden. Über das Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft wird in der internationalen Kommunikationswissenschaft bereits seit einigen Jahren wieder diskutiert. Doch wie sieht es in der deutschsprachigen Kommunikationswissenschaft aus? Zwar wurde schon 2019 in einer Charta zu Öffentlicher Kommunikationswissenschaft aufgerufen,  doch bisher scheint die Absicht noch nicht in - publiziertes - Handeln umgesetzt worden zu sein. In Anlehnung an Burawoys Arbeiten zu Öffentlicher Soziologie (2005) forderten Prinzing, Eisenegger und Krainer als Initiator_innen der Charta ihre Kolleg_innen zu verstärktem Austausch mit der Gesellschaft auf. Die Kolleg_innen unterschrieben zuhauf - weitere Folgen sind bisher jedoch kaum zu beobachten.

Mit ihrem Vortrag möchte Sevda Can Arslan daher dazu einladen, in einen ausführlichen Austausch über das Verhältnis von Kommunikationswissenschaft und Gesellschaft zu treten. Sie plädiert dafür, die gegenwärtige Selbstverständnisdebatte im Fach um diese Dimension zu erweitern. Dafür untersucht sie zunächst den Status Quo: Wie wird das Verhältnis von Kommunikationswissenschaft und Gesellschaft in der aktuellen Selbstverständnisdebatte beschrieben? Wo sind sich die Autor_innen einig, welche Unterschiede gibt es? Die vorgefundenen Aspekte werden mithilfe von Selkes Modell von Wissenschaftsauffassungen (2015) typologisiert. Auf ihre Kritik daran folgt ein Vorschlag für die Kombination von öffentlicher und gesellschaftskritischer Forschung. Danach liefert sie konkrete Fallbeispiele für solche Forschung, die die Möglichkeiten, Herausforderungen und Grenzen öffentlichen Wirkens von Kommunikationswissenschaft schon jetzt ausloten.

25.04.2023 | 18.15 Uhr | E2.339

Der Vortrag illustriert anhand mehrerer Beispiele aus dem Future Histories-Podcast das Podcasten als Forschungspraxis. Um eine kritische Forschungspraxis handelt es sich hierbei insofern, als dass zum einen auf inhaltlicher Ebene Themenkomplexe immer wieder auch mit kritischer Absicht behandelt werden, und zum anderen, weil das Behaupten einer bislang noch nicht etablierten Methode als Forschungspraxis immer auch eine mitgeführte Kritik am vorgefundenen Sortiment der Methodik impliziert. Dass es sich beim Podcasten tatsächlich um eine Form der erweiterten Forschungspraxis handeln kann, die sich folglich z.B. von so etwas wie reiner Wissenschaftskommunikation unterscheidet, soll im Rahmen des Vortrags nicht zuletzt am Material selbst plausibilisiert werden.

09.05.2023 | 18.15 Uhr | E2.339

Bildung lässt sich aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive klassischerweise als Prozess der Transformation von Selbst- und Welthaltungen verstehen (Marotzki 1990; Koller 1999; Nohl 2006). Die sozio-kulturellen Gegebenheiten, unter denen sich Bildung vollzieht, sind dabei von entscheidender Bedeutung. Dementsprechend stellt sich angesichts der digital-medialen Durchdringung unserer Gegenwart die Frage, wie ein zeitgemäßer Bildungsbegriff aussehen kann, der sowohl theoretisch in der Lage ist, an Konzepte ‚digitaler Medialität‘ anzuschließen als auch empirisch anschlussfähig bleibt.

Der Beitrag entwickelt einen solchen Ansatz und schließt hierzu an einen praxistheoretisch informierten Bildungsbegriff (Rosenberg 2011) an. Es wird gezeigt, inwiefern eine solche Grundlegung – die insbesondere von einem starken Relationalitätsbegriff ausgeht – Möglichkeiten bietet, die digital-mediale Konstitution von Bildungsprozessen sowohl mit Blick auf aktuelle medientheoretische Ansätze (Dang-Ahn et al. 2017; Gießmann 2018) aber auch hinsichtlich method(olog)ischer Herausforderungen (Engel 2020; Bettinger 2021) angemessen zu berücksichtigen. Damit geht die These der Notwendigkeit eines veränderten Subjektverständnisses einher, das post-anthropozentrisch ausgerichtet ist und wesentlich stärker die hybriden „Beziehungsweisen und Bezogenheiten“ (Krautz 2017) in den Blick nimmt, unter denen sich Bildung ereignet.

23.05.2023 | 18.15 Uhr | E2.339

Bereits seit mehreren Jahrzehnten hat sich in den Forschungen zur Theorie und Geschichte der Fotografie die Einsicht in den materiellen Charakter dieser Bilder durchgesetzt. So wie jedes andere Bild erschöpfen sich auch Fotografien nicht in ihrer Funktion, visuelle Informationen zu vermitteln. Vielmehr lässt sich davon eine materielle, objekthafte oder körperliche Dimension abheben: Fotografien sind nicht nur ‚images‘, sondern auch ‚pictures‘. Für die Fotoforschung hat sich diese auf Englisch so leicht formulierte Unterscheidung als sehr gewinnbringend erwiesen und zu einer Vielzahl von Untersuchungen geführt, die den physischen Charakter dieses Mediums ernst nehmen und sich vor allem die pragmatischen Folgen einer solchen Unterscheidung interessieren.

In seinem Vortrag will Steffen Siegel allerdings zeigen, dass aus einer solchen Perspektive der Medienmaterialität zwingend eine weitere und hieran anschließende Frage zu stellen ist: die der Zeitlichkeit aller Objekte. Fotokritik, wie er sie versteht, muss sich ihrer Gegenstände in diachroner Perspektive widmen. Überraschenderweise werden dabei insbesondere jene Dimensionen des fotografisches Bildes wieder besonders interessant, die gerade nicht – oder höchstens indirekt – der körperlichen Dimension des Fotografischen angehören.

06.06.2023 | 18.15 Uhr | E2.339

Memes sind Alltagsphänomen und genuine Kulturtechnik der vernetzten Welt. Sie sind Umgangsweisen mit Hyperinformation, Operationen in expliziten und informellen Datenbanken, anarchische Medienkritiken unbekannter User*innen. Sie sind populistisches Werkzeug und Teil einer Poetologie oder Anthropologie digitaler Kulturen. Der Vortrag versucht – in Gegenbewegung zu biologisierenden  Lesarten von Memes als „Bedeutungsgene“ – Memes als Kritikgeste innerhalb postfaktischer Informationswelten zu beschreiben: sie clashen unverbundenen content, legen Irritationen im information flow frei, schaffen sticky moments in der Aufmerksamkeitökonomie. Memes sind ein doing of digital culture, und damit komplexer zu betrachten als kanonische Ansätze zu digitaler Folklore, Witzproduktion oder Bildkritik andeuten. Sowohl alte als auch neue Memes, rechtsextreme wie emotionale Archive werden besprochen.