Abduktion und Heuristik
Volker Peckhaus, Erlangen
[Erschienen in: Rationalität, Realismus, Revision.Vorträge des 3. Internationalen Kongresses der Gesellschaft für Analytische Philosophie, hg. v. Julian Nida-Rümelin, Walter de Gruyter: Berlin/New York 1999 (= Perspektiven der Analytischen Philosophie; 23), 833–841. ]
Abduktion und Heuristik
„Heuristik" ist definiert worden als die „Lehre von den Verfahren, Probleme zu lösen, also für Sachverhalte empirischer und nicht-empirischer Wissenschaften Beweise oder Widerlegungen zu finden", so von Kuno Lorenz in der Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie (Lorenz 1984, 99f.); „heuristisch", so meint Heinrich Schepers, seien solche Verfahren, Grundsätze oder Methoden, die „[...] etwas zur Erkenntniserweiterung beitragen, ohne selbst die Sicherheit der gewonnenen Erkenntnisse begründen zu können" (Schepers 1974, Sp. 1120). Beide Bestimmungen sind wohl zu eng, denn warum sollte eine Heuristik auf den Problemlösungsaspekt beschränkt sein, also nicht auch der durch kein Problem beschwerten Befriedigung der Neugier dienen, und warum sollten heuristische Methoden nicht auch auf sichere Erkenntnisse führen können? Es scheint daher sinnvoll zu sein, bei der ursprünglichen Wortbedeutung zu bleiben, die ja auch in dem korrespondierenden lateinischen Ausdruck „ars inveniendi", Erfindungs- oder Findungskunst, steckt. Danach wären heuristische Verfahren solche Verfahren, die auf neue Erkenntnisse führen. Sie sind insofern erkenntniserweiternd, als sie neue Erkenntnisse stiften. So hat z.B. der Algorithmus zur Erzeugung von Primzahlen eine heuristische Funktion, da er mit Großrechnerhilfe auf immer neue, bisher von niemandem gekannte Primzahlen führt, die also durchaus als neue Erkenntnisse angesehen werden können und zwar als sichere neue Erkenntnisse.
Unter den heuristischen Methoden spielt in der gegenwärtigen Diskussion die Abduktion eine herausgehobene Rolle. Ich werde im folgenden diese Dominanz relativieren, indem ich auf andere, aus der Logik abgeleitete Verfahren hinweisen werde, die ebenfalls einen Beitrag zur Erkenntnisfindung leisten können. Ich werde mich dabei historischer Beispiele aus der Mitte des 19. Jahrhunderts bedienen, die, wie ich denke, bis heute ihre Relevanz nicht verloren haben. Mir wird es dabei vor allem um eine Rehabilitation deduktiver Verfahren gehen, denen üblicherweise der kreative, innovative Impetus gänzlich abgesprochen wird. Unter deduktiven Verfahren verstehe ich ganz allgemein solche Verfahren, die Ableitungen von Aussagen aus anderen Aussagen mittels logischer Schlußregeln liefern. Kontaminiert wird diese Definition allerdings durch den terminologischen Gebrauch in der Mitte des 19. Jahrhunderts, denn damals wurde ganz im Sinne der Aristotelischen Gegenüberstellung von Syllogismus und Induktion die Deduktion als Herleitung des Besonderen und Einzelnen aus dem Allgemeinen der Induktion als Schluß vom Besonderen auf das Allgemeine entgegengesetzt. Als logische Form der Deduktion wurde meist der Syllogismus angesehen, bzw. der syllogistisch verfahrende (deduktive) Beweis.(1)
Das amerikanische Universalgenie, der Vermessungsingenieur, Mathematiker, Philosoph und Sprachwissenschaftler Charles S. Peirce (1839-1914) hat bekanntlich die Frage, ob deduktive Verfahren zu neuen Erkenntnissen führen können, verneint. Deduktive Verfahren wie z.B. syllogistische Schlußketten haben für ihn nur eine erläuternde bzw. rechtfertigende Aufgabe. Eine Funktion im Rahmen einer ars inveniendi wollte er in seinen frühen logischen Schriften, z.B. den Harvard Lectures von 1865 (Peirce 1982, 162-302) oder den Lowell Lectures von 1866 (ebd., 358-503), lediglich bei Induktionsschlüssen und bei Schlüssen auf Hypothesen sehen, die er als „wissenschaftliche" Schlüsse gegenüber deduktiven Schlüssen auszeichnete. In seinen späteren Schriften(2) ist es nur noch die von den hypothetischen Schlüssen abgeleitete Abduktion (gelegentlich auch "Retroduction" genannt), für die er eine solche kreative, heuristische Funktion in den Wissenschaften anerkennen wollte. Die Peircesche Theorie der erkenntniserweiternden und deduktiven „theorematischen Schlüsse" bleibt hier außer Betracht (vgl. Heinzmann 1994).
Mir wird es in dem Vortrag nicht um eine umfassende Darstellung der Peirceschen Theorie der Abduktion gehen(3) und auch nicht um eine Analyse der vielfältigen Anwendungen, die die Abduktion als Schluß auf die beste Erklärung gefunden hat.(4) Ich will vielmehr Peirces Anspruch prüfen, daß mit der Abduktion die einzigeArgumentationsfigur isoliert sei, durch die neue Erkenntnisse in den Gang einer Argumentation eingebracht werden können (Peirce 1931, 2.96). Ich werde zeigen, daß eine solche, in der starren Peirceschen Triadik kodifizierte Trennung künstlich ist, da sie die notwendige Verknüpfung der in ihr aufgeführten Methoden verdeckt und deren Hierarchie verleugnet. Es ist eine conditio sine qua non für deduktive Schlüsse, daß die in ihnen auftretenden Ausgangssätze allererst aufgestellt werden müssen. Bei dieser Aufstellung spielen die induktiven und abduktiven Methoden natürlich eine wichtige Rolle. Sie dienen dazu, Deduktionen allererst zu ermöglichen. Im folgenden werde ich die Peirceschen Abduktionsschlüsse insbesondere mit der „syllogistischen Beweistheorie" vergleichen, wie sie z.B. 1857 von Friedrich Ueberweg in seinemSystem der Logik vertreten wurde.
Peirce unterscheidet in seinem triadischen System der Argumentationstypen Deduktion, Induktion und Hypothese bzw. Abduktion. Die Deduktion (zumindest in Syllogismen der ersten Figur) bestimmt er als Schluß von einer Regel und einem Fall auf ein Ergebnis, die Induktion ist der Schluß von einem Fall und einem Ergebnis auf die Regel, die Hypothese oder Abduktion besteht im Schluß von einer Regel und dem Ergebnis auf den Fall (vgl. Peirce 1931, 2.623). Machen wir uns diese Unterscheidung an seinem berühmten Beispiel mit den weißen Bohnen klar (2.623): Der Schluß „Alle Bohnen aus diesem Beutel sind weiß; diese Bohnen sind aus diesem Beutel, folglich sind sie weiß" ist ein deduktiver Schluß, in dem im Schlußsatz nichts ausgesagt wird, was nicht schon von den Prämissen impliziert wäre. Der Schluß ist daher analytisch, also nicht erkenntniserweiternd. Der entsprechende Induktionsschluß lautet: „Diese Bohnen sind aus diesem Beutel; diese Bohnen sind weiß, folglich sind alle Bohnen aus diesem Beutel weiß." Der Schluß ist nicht allgemeingültig. Er gilt nur mit Wahrscheinlichkeit, die allerdings kaum quantifizierbar ist, wenn die Anzahl der in dem Beutel befindlichen Bohnen nicht bekannt ist. Der Schlußsatz geht allerdings in seiner Verallgemeinerung über das in den Prämissen Gesagte hinaus. Er ist also erkenntniserweiternd und synthetisch. Der Abduktionsschluß schließlich lautet: „Alle Bohnen aus diesem Beutel sind weiß; diese Bohnen sind weiß, also sind diese Bohnen aus diesem Beutel." Auch dieser Schluß ist nicht allgemeingültig. Der Schlußsatz der Abduktion enthält vielmehr eine Hypothese, die eine Verbindung zwischen den Prämissen herstellt, indem in ihr eine Annahme ausgedrückt wird, die als Fall der Regel notwendig auf das Ergebnis, also die zweite Prämisse führen würde.
Es verwundert, wie nachlässig die formale Struktur dieses Beispiels in der Literatur trotz seiner großen Beliebtheit bei den Interpreten behandelt wurde. So ist der Deduktionsschluß leichthin als ein Schluß nach Modus BARBARA bezeichnet worden,(5) und auch Umberto Eco analysiert ungenau, wenn er „aus dem Beutel kommend" ohne weitere Erläuterung als Mittelbegriff bezeichnet. Es fällt doch auf, daß die erste Prämisse gar nicht auf Standardform gebracht ist, da sie ja drei Begriffe enthält: „Bohnen", „aus dem Beutel kommend" und „weiß". Wir müssen den Schluß also erst als Modus BARBARA rekonstruieren. Eine Rekonstruktionsmöglichkeit ist die folgende:(6)
Alle Bohnen aus diesem Beutel sind weiß. Diese sind Bohnen aus diesem Beutel.
Diese sind weiß.
In dieser Rekonstruktion steht also „Bohnen aus diesem Beutel" für den Mittelbegriff. An Subjektstelle steht lediglich der Indikator „diese". Wenn für „diese" „diese Bohnen" substituiert wird, erhält man wieder den ursprünglichen Schluß. Die Differenz zur Deutung von Eco liegt also in der unterschiedlichen Bestimmung des Mittelbegriffs.
Ich will die Peircesche Position noch einmal zusammenfassen. Nach Peirces Auffassung erläutern deduktive Schlüsse nur unser Wissen, sie führen aber nicht zu neuem Wissen (1982, 394): "Syllogism never moves a step beyond its starting point" (ebd., 424). Nur Induktion und Hypothese sind erklärend und damit nach dem Peirceschen Verständnis wissenschaftlich. Er unterscheidet sie wie folgt (ebd., 428):
Induction is the process by which we find the general character of classes and establish natural classifications. [...] Hypothesis alone affords us any knowledge of causes and forces, and enables us to see the why of the things.
In der Harvard Lecture schreibt er pointiert: "Hypotheses give us our facts. Induction extends our knowledge. Deduction makes it distinct" (ebd., 283). „Die Fakten geben" heißt in unserem Beispiel mit den weißen Bohnen, daß uns der Abduktionsschluß auf eine hypothetische Tatsachenbehauptung führt, die in den Prämissen nicht ausgedrückt ist, diesen aber nicht widerspricht. Damit wird deutlich, daß das eigentliche Einsatzgebiet abduktiver Schlüsse in der hypothetischen Verbindung empirischer Befunde zu einem kausalen Zusammenhang besteht. Ein von Peirce gegebenes Beispiel möge dies veranschaulichen (1931, 2.625): Wir nehmen an, daß fossile Meeresfische mitten im Binnenland gefunden wurden. Dieses Phänomen kann erklärt werden, wenn angenommen wird, daß die Fundstelle einst vom Meer umspült war. Dieser abduktiv gewonnene Schluß entspricht der paläontologischen Forschungstradition, und dennoch gilt er nicht mit Notwendigkeit. Umberto Eco malt denn auch in seiner Diskussion des Peirceschen Beispieles mögliche Alternativen aus (Eco 1983, 204). Wir können uns z.B. vorstellen, daß außerirdische Monster nach einem Picknick die Überreste ihres Mahles an die Fundstelle getragen haben.
Die Leistungen abduktiver Schlüsse im Rahmen einer in der Wissenschaftstheorie anzusiedelnden Logik wissenschaftlicher Entdeckungen sind kaum zu bezweifeln, deduktiven Verfahren aber jede Funktion für die Findung neuer Erkenntnisse abzusprechen, wäre vorschnell geurteilt. Ich möchte mich dagegen einer rationalistischen Position anschließen, hatten doch die großen Rationalisten des 17. und 18. Jahrhunderts kombinatorische und logisch-kalkulatorische Verfahren entwickelt, gerade um sie zur Erkenntnisfindung einzusetzen.
Als Alternative zur Peirceschen, sehr restriktiven Einschätzung der Deduktion kann die syllogistische Beweistheorie des Philosophen, Philosophie- und Logikhistorikers Friedrich Ueberweg (1826-1871) dienen, mit der gezeigt werden kann, daß sich durchaus Reste der rationalistischen Wertschätzung für Deduktionen in das 19. Jahrhundert der Zeit nach Kant und Hegel gerettet haben. Es soll nicht behauptet werden, daß Ueberwegs Ansatz, Beweise syllogistisch zu führen, auch heute noch tragfähig ist. Zu eng band sich Ueberweg an den syllogistischen Schluß, zu sehr war seine Auffassung von der sicheren mathematischen Methode an den Elementen des Euklid orientiert, zu wenig nahm er die seinerzeit entstehende moderne Mathematik eines Gauß und anderer zur Kenntnis. Dennoch kann anhand des Beispiels gezeigt werden, daß bei der Anwendung deduktiver Verfahren auch kreative, synthetische Aspekte ins Spiel kommen, und zwar immer dann, wenn untersucht wird, aus welchen Prämissen ein zu beweisender (zu deduzierender) Satz tatsächlich folgt.
Die wichtigsten Quellen für Ueberwegs Philosophie der Mathematik sind ein 1851 veröffentlichter Aufsatz über „Die Principien der Geometrie, wissenschaftlich dargestellt" und vor allem das 1857 erstmals erschienene Lehrbuch System der Logik und Geschichte der logischen Lehren. Ueberweg geht in seiner Philosophie der Mathematik von der Kantschen Auffassung aus, kritisiert aber deren transzendentalphilosophischen Kern, die Behauptung nämlich, daß mathematische Urteile synthetische Urteile a prioriseien. Die Arithmetik hält Ueberweg für rein analytisch, er meint also, daß ihre Lehrsätze auf formal-logischem Wege aus ersten Definitionen abgeleitet werden. Geometrische Sätze dagegen seien nicht rein analytisch, da bei ihnen die Raumanschauung als synthetisches Element hinzutrete (1851, 20).
Anders als Kant, der die mathematischen Urteile als Garanten für die Existenz synthetischer Urteile a priori nimmt, schlägt Ueberweg eine, wie er sagt, empirisch-analytische Grundlegung vor. Ueberweg geht von konkreten Anschauungen aus, deren analytische Zerlegung ihn auf die geometrischen Grundbegriffe, Axiome und Postulate führt. Auf den analytisch gewonnenen Grundlagen kann dann das Satzsystem der Geometrie synthetisch aufgebaut werden (ebd., 21). Bei dieser Art der Begründung haben die geometrischen Grundsätze lediglich hypothetischen Charakter. Worauf beruht dann aber ihre Gewißheit? Ueberweg sieht diese Gewißheit in der „fortlaufende[n] approximative[n] Bestätigung ihrer Consequenzen durch die Erfahrung" begründet (ebd., 23). Die hier deutlich werdende Affinität Ueberwegs zu induktiven Verfahren mag der Grund dafür sein, daß er zu einem der bekanntesten deutschen Logiker in Großbritannien wurde. Sein System der Logik wurde 1871 ins Englische übersetzt.
Ueberweg betont, daß gesetzmäßige Zusammenhänge in der Mathematik wie in anderen Wissenschaften „immer nur entweder deductiv, d.h. syllogistisch, oder inductiv" gefunden werden. Die Deduktion mathematischer Sätze aus Definitionen und Prinzipien (und damit auch der in umgekehrter Richtung verlaufende mathematische Beweis) beruht nach Ueberwegs Ansicht fast ausschließlich auf der syllogistischen Methode. „Die syllogistische Methode", so schreibt er (1857, 308), „ist der Lebensnerv der mathematischen Beweisführung". Mathematische Beweise seien zwar enthymemisch, also verkürzt in der Form des Ausdrucks, nicht aber in der syllogistischen Gedankenform. Ueberweg veranschaulicht dies bemerkenswerterweise an einem syllogistischen „Beweis" des Euklidschen Parallelenpostulats (304-308). Ueberweg konstruiert diesen Beweis als Abfolge von 15 Syllogismen, davon 13 des Modus BARBARA. Diesen Befund verallgemeinert Ueberweg dahingehend, daß die direkten mathematischen Beweise für affirmative Lehrsätze fast ausschließlich durch Syllogismen dieses ersten Modus der ersten Figur geführt werden (1857, 304). Bei der erwiesenen Unabhängigkeit des Parallelenpostulats verwundert es nicht, daß der „Beweis" in den letzten Auflagen des Systems der Logik nicht mehr zu finden ist.(7)
Vielleicht ist es sinnvoll, hier kurz zu verweilen und einmal an dem Beispiel des vermeintlichen Beweises des Parallelenpostulats zu zeigen, wie sich Ueberweg eine syllogistische Rekonstruktion eines mathematischen Beweises vorgestellt hat. Das 11. Axiom bzw. in der Thaerschen Ausgabe 5. Postulat der Geometrie Euklids (1991, 3) lautet:
Gefordert soll sein: [...] 5. (Ax. 11) Und daß, wenn eine gerade Linie beim Schnitt mit zwei geraden Linien bewirkt, daß innen auf derselben Seite entstehende Winkel zusammen kleiner als zwei Rechte werden, dann die zwei geraden Linien bei Verlängerung ins unendliche sich treffen auf der Seite, auf der die Winkel liegen, die zusammen kleiner als zwei Rechte sind.
Ueberweg will dieses Axiom beweisen „auf Grund der von demselben unabhängigen Axiome und Lehrsätze der Arithmetik und Geometrie" und der Definitionen von Richtung und Richtungsunterschied sowie von auf den Richtungsbegriff zurückgreifenden Definitionen der geraden Linie und der Parallellinie. Unter Bezugnahme auf die Figur lautete Ueberwegs erster Syllogismus (Ueberweg 1857, 305):
Gleiche Richtungen haben gleiche Richtungsunterschiede [d.h. Geraden gleicher Richtung haben gegenüber einer sie schneidenden Geraden oder mehreren sie schneidenden Geraden, die selbst gleicher Richtung sind, gleiche Richtungsunterschiede].
Die Richtungen von GK und HD, sowie von GH und HF sind aber gleiche Richtungen.
Folglich haben sie auch gleiche Richtungsunterschiede.
Abgesehen von der hier nicht weiter zu diskutierenden, sehr problematischen Definition des Richtungsbegriffs wird schon im ersten Syllogismus der Ueberwegsche Beweisfehler deutlich. Der allgemeine Obersatz kommt weder als Axiom noch als Postulat in der Geometrie Euklids vor. Er müßte also bewiesen werden. Der Sache nach werden die Winkelverhältnisse beim Schnitt von zwei Parallellinien durch eine Gerade im Lehrsatz 20 der Thaerschen Ausgabe festgelegt. Dieser Lehrsatz wird aber unter Rückgriff auf das Parallelenpostulat bewiesen. Er erfüllt damit nicht die Voraussetzung Ueberwegs, nur solche Lehrsätze zu verwenden, die vom Parallelenaxiom unabhängig sind. Ueberwegs Beweis ist also zirkulär.
In unserem Zusammenhang interessiert nun die Frage, ob durch syllogistische Beweisverfahren neue Erkenntnisse entstehen können. Ueberweg ist dieser Auffassung, und er argumentiert gegen Friedrich Schleiermacher, der in seiner Dialektik (1839, 287) ganz ähnlich wie Peirce erklärt hatte:
Ein Fortschritt im Denken, eine neue Erkenntniß[,] kann also durch den [syllogistischen] Schluß nicht entstehen, sondern er ist bloß Besinnung darüber[,] wie man zu einem Urtheil, das Schlußsaz ist, gekommen ist oder gekommen sein könnte; [...] eine neue Einsicht ist damit niemals gewonnen.
Schleiermacher wendet ein, daß mathematische (geometrische) Verfahren nur zum Schein syllogistisch seien, denn es komme in der Mathematik vor allem auf die Erfindung von Hilfslinien an. Wer diese habe, habe auch den Beweis, dessen Konstruktion er schließlich syllogistisch analysiere (287). „Die rechten Mathematiker", fährt Schleiermacher fort, „geben auch nichts auf den Syllogismus, sondern sie führen alles auf die Anschauung zurükk [sic!]" (288).
Die Bedeutung der Erfindung von Hilfslinien gesteht Überweg zu, doch in den Hilfslinien liege keine Beweiskraft, so betont er, sondern in den durch sie ermöglichten Anwendungen schon früher bewiesener Sätze und schließlich der Axiome und Definitionen auf den zu beweisenden Satz, „und diese Anwendung ist ihrem Wesen nach ein syllogistisches Verfahren" (1857, 261). Die Hilfslinien seien die Wegweiser, nicht die Wege der Erkenntnis. Als Wegweiser haben sie aber eine heuristische Funktion. Ueberweg betont (261), daß, um die passenden Syllogismen aufzufinden, die Kenntniß der syllogistischen Regeln nicht ausreicht, sondern ein eigenthümlicher mathematischer Sinn, ein divinatorisches Talent[,] erforderlich ist, und daß dieses Talent, indem es wie mit einem Blick ganze Reihen verschlungener Beziehungen durchschaut, grade am wenigsten die breite Form vollständig entwickelter Syllogismen zu lieben pflegt.
Ueberweg geht also davon aus, daß die Verbindung zwischen einem zu beweisenden Satz und den Ausgangssätzen mathematischer Deduktionen syllogistisch hergestellt werden kann. Das dabei verfolgte Verfahren ist ein analytisches, regressives Verfahren, mit dessen Hilfe angestrebt wird, den zu beweisenden Satz als letzten Schlußsatz einer Folge von Syllogismen möglichst des Modus BARBARA zu rekonstruieren. Dazu wird der Satz zunächst auf Standardform gebracht. Die Prämissen, aus denen er folgt, müssen nun gefunden werden. Subjekt und Prädikat der Prämissen stehen hinsichtlich ihrer Gestalt und ihrer Stellung fest. Was fehlt ist der Mittelbegriff, den zu ermitteln es des „divinatorischen Talents", also der Ahnung oder Intuition des Mathematikers bedarf. Ist der Schluß gefunden, müssen nun beide Prämissen in ähnlicher Weise untersucht werden. Das Verfahren wird so lange fortgesetzt, bis in den Prämissen Definitionen, Axiome oder schon bewiesene Sätze stehen. Erst dann kann der zu beweisende Satz als deduktiv ableitbar und damit bewiesen gelten.
In dieser Findung des Mittelbegriffs liegt nun unbezweifelbar ein kreatives Element, das hinreichen könnte, dem Syllogismus eine Aufgabe im Rahmen einer ars inveniendi zuzuweisen. Immerhin kann die regressive Konstruktion von Schlußketten zu der ja doch sicher neuen Erkenntnis führen, daß ein bis dato hypothetisch unterstellter Satz deduktiv aus bereits gültig erkannten (oder unterstellten) Sätzen folgt und damit selbst gültig ist (oder als gültig unterstellt werden kann).
Diejenigen Logiker, die der deduktiven formalen Logik einen erkenntnisfindenden Charakter absprechen, heißen sie nun Peirce, Mill oder Wittgenstein, sprechen damit auch allen kombinatorischen, algorithmischen oder Kalkül-Verfahren einen erkenntnisfindenden Charakter ab. Sie unterstellen, daß z.B. die kombinatorische Analyse der möglichen Einsetzungen für die beiden allgemein-bejahenden Prämissen eines Modus BARBARA stets möglich ist. In den Listen möglicher Einsetzungen müßte ein gültiger Schlußsatz enthalten sein. Bei dieser Sachlage muß es geradezu als Aporie erscheinen, daß in der prästabilierten Harmonie von Gottfried Wilhelm Leibniz Kombinatorik, Syllogistik und Kalkül die wichtigsten Werkzeuge einer ars inveniendi waren. In der rationalistischen Tradition diente die Logik als Organon, um dem notwendig begrenzten Menschen einen möglichst weitgehenden Zugriff auf die mit der Schöpfung vollständig kreierten Wahrheiten zu ermöglichen. Die Rationalisten machten klar, daß neue Erkenntnisse immer nur neu in Bezug auf den bisher erreichten Wissensstand sind. Erkenntniserweiterende Funktionen haben deduktive Verfahren in ihren Systemen in zweifacher Hinsicht: Sie geben mit Hilfe z.B. syllogistischer Beweisverfahren die Sicherheit, daß bis dato hypothetisch angenommene Sätze relativ zum bisherigen Wissensstand gültig sind, und sie geben ein Werkzeug an die Hand, die verfügbaren Erkenntnisse zu erweitern und in ihrer Komplexität zu beherrschen. In diesen erkenntniserweiternden Funktionen sind sie heuristisch. Darüber hinaus hat aber selbst die Form deduktiver Schlüsse eine heuristische Funktion, da sie als Darstellungsmuster für die Ordnung von Satzsystemen dienen kann. Die Suche nach Problemlösungen kann sich an diesen Darstellungsmustern orientieren. Der kreativen Intention wird damit eine Richtung gegeben. Angesichts der Rolle, die heute computergestützte Verfahren bei der Überprüfung von Hypothesen und bei der Generierung neuer Erkenntnisse spielen, scheinen mir die rationalistischen Systeme heuristisch ergiebiger zu sein, als die mit Wahrscheinlichkeiten operierenden abduktiven Systeme oder die mit materialer Wahrheit hantierende traditionelle Syllogistik.
Vielleicht hatte Peirce selber Bedenken gegenüber der Zügellosigkeit seiner Abduktionen. Er band sie nämlich, zumindest in einigen seiner Stellungnahmen, an eine deduktive Überprüfung. Hypothesen müssen getestet werden, nicht, indem die unterstellten Phänomene untersucht, sondern indem alle möglichen Konsequenzen überprüft werden, die aus der Wahrheit der Prämissen folgen würden (Peirce 1935, 6.470). Dies ist für Peirce der zweite Schritt der Untersuchung, den Eco (1983) "meta-abduction" nennt. Ich denke, daß rekurrierend eingesetzte deduktive Verfahren zeigen, wie beide Schritte miteinander kombiniert werden können.
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1. Vgl. Deduktion (1955).
2. Vgl. z.B. einige der in Peirce 1931 unter dem Titel "Elements of Logic" zusammengefaßten Texte.
3. Eine bewundernswert klare Darstellung der Peirceschen Theorie der Abduktion hat Jürgen v. Kempski schon 1952 vorgelegt (vgl. v. Kempski 1992, 276-302).
4. Vgl. aus der Fülle der Literatur z.B. Josephson/Josephson (Hgg.) 1994.
5. So z.B. von Rohr 1993, 89; Richter 1995, 33.
6. Ich verdanke diese Möglichkeit den Diskussionen mit Rudolf Kötter über dieses Problem.
7. Der Beweis ist in der 2. Auflage von 1865 unverändert übernommen, in der 5. Auflage von 1882 aber nicht mehr enthalten. In der 3. Auflage von 1868 ist er zwar gedruckt (305-310), durch Erläuterungen Ueberwegs aber wesentlich relativiert.