“Män­ner haben Ex­pert­ise, Frauen ein Geschlecht. Schreiben über Pop”. Ein Nachbericht zum Im­puls und Talk von Sonja Eis­mann und Charlie Mio Marlin

Der Jahreskongress der Gesellschaft für Medienwissenschaft (GfM)fand dieses Jahr in Paderborn an der Universität statt. Neben zahlreichen Paneltalks, Diskussionen, Vorträgen und weiteren Beiträgen konnte das Forschungszentrum C:POP (Transciplinary Research Center for Popular Music Cultures and Creative Economies) dessen Beirätin, ehemalige Popdozentin und Herausgeberin des “Missy Magazine. Pop, Politik und Feminismus”, Sonja Eismann, für eine Lesung aus ihrem jüngst erschienen Buch “Candy Girls – Seximus in der Musikindustrie” (Nautilus Verlag) gewinnen. Vor einem großen Publikum aus circa 200 Personen, bestehend aus Mitgliedern und Tagungsgäst*innen der GfM, Mitgliedern des C:POP, Studierenden der UPB und interessierter Öffentlichkeit, stellte die prominente Autorin einige Kapitel aus ihrem Buch vor.  

Begleitet wurde die Lesung von Charlie Mio Marlin, freischaffende*r Autor*in und Künstler*in und ehemalige*r Studierende*r des Bachelors “Populär Musik und Medien" an der UPB. Mit dem Song “Apokalypse Wow” wurde die Veranstaltung energetisch, aber dystopisch angehaucht, eröffnet. Später erzählt they, dass dieser einer der ersten selbstgeschriebenen Songs sei, und andere Pop-Studierende erinnern sich an frühere Performances von Charlie auf H8 in den Uni-Proberäumen. 

Gerahmt und begleitet wurde die Veranstaltung durch Prof. In Dr. In Beate Flath, Geschäftsführende Direktorin von C:POP sowie Vizepräsidentin der UPB, und ihrem Kollegen und stellvertretenden Sprecher von C:POP Prof. Dr. Christoph Jacke, die im Anschluss zur Podiumsdiskussion gemeinsam mit Charlie Mio Marlin und Sonja Eismann einluden.

“Strukturen”

Das erste Kapitel, das in der Lesung von Sonja Eismann vorgestellt wurde, trägt den Titel “Strukturen”, und beschäftigt sich mit eben jenen innerhalb der Musikindustrie. Wenig überraschend, dennoch schockierend, berichtet die Autorin mit beinahe zynischem Unterton über den geringen FLINTA-Anteil auf Festival-Bühnen und in führenden Positionen der Industrie. Das Argument, es gäbe einfach keine erfolgreichen Bands mit weiblicher Besetzung, sei nicht ausreichend: in patriarchalen Strukturen werde es FLINTA-Personen erschwert, erfolgreich zu sein – und dieser mangelnde Erfolg würde dann als Argument herangeführt, warum FLINTA-Personen nicht gebucht werden könnten. Gleichzeitig gäbe es die großen weiblichen Popstars wie Taylor Swift und Billie Eilish , die aber auch nicht für die Festivalbühnen geeignet seien, weil sie zu erfolgreich, ergo zu teuer, wären. Frauen würden außerdem Musik von Künstler*innen aller Geschlechter, Männer aber lieber Musik von Männern konsumieren, so Eismanns Einschätzung und Erfahrung vor allem als Journalistin und Kulturwissenschaftlerin. Daraus ließe sich aus der Sicht von Veranstaltenden schließen, dass weibliche oder nonbinäre Acts die Attraktivität eines Events für das Publikum dezimieren und somit weniger erfolgversprechend sind als männliche Acts – oder dass wir als Gesellschaft noch einen weiten Weg vor uns haben, was die Gleichstellung der Geschlechter angeht, wobei Eismann ausdrücklich feministische Verbünde und Aktivitäten wie das Netzwerk “Female Pressure” hervorhebt, die selbst alternative Strukturen aufbauen oder die etablierten seit längerem verändern wollen.

 “Dein Körper ist immer falsch”

Der weibliche Körper im Auge der Öffentlichkeit solle perfekt sein, wobei sich laut Eismann die Frage, was denn eigentlich perfekt sei, kaum beantworten lasse. Body-Shaming gehöre für weibliche (Pop-)Stars dazu, und sind auch vom Erfolg unabhängig. Eismann zitiert Internet-Kommentare wie auch Zeitschriften-Artikel, in denen weiblichen Stars Fettleibigkeit oder Magersucht vorgeworfen werden, und beschließt das Kapitel mit der Beantwortung der Frage, ob es diesen Frauen denn überhaupt etwas ausmache. Ja, sagt Eismann. Ein Beispiel von vielen sei die Beinahe-Überdosis von Demi Lovato.

Im Anschluss stellt Charlie Mio Marlin einen weiteren Song mit ganz ähnlichem Thema vor. In “Mein Gesicht” adressiert der*die Performer*in Body Shaming im Privaten wie im Professionellem und beeindruckt das Publikum durch Gesangstalent und lyrische Umsetzung: “Mein Gesicht ist dein Plakat / also komm, design mich hier und jetzt / probiere jede Schriftart aus / Komm, mach mich perfekt” 

“Männer haben Expertise, Frauen haben ein Geschlecht”

Das dritte und letzte Kapitel, das die Autorin im Rahmen der Veranstaltung vorstellt, trägt den Titel “Schreiben über Frauen im Pop”. Hier berichtet Eismann, dass sie, obwohl sie eigentlich sehr gerne schreibt, beim Verfassen des Buches sehr schlechte Laune gehabt habe. In der anschließenden Podiumsdiskussion berichtet die Autorin, dass sie, auch wenn sie sich schon sehr lange damit auseinandergesetzt hat, den Entschluss, daraus ein ganzes Buch zu verfassen, vor allem im Zusammenhang mit der Debatte rund um Machtmissbrauch in der Musikindustrie und die Band Rammstein gefasst hat. Auch mit der Digitalisierung sei ihr eine Zunahme an Misogynie auch im Bereich der Popmusikkulturen und –industrien aufgefallen, die sie auf eine fundiert recherchierte Art in Worte fassen wollte.  

Das Schreiben über Frauen im Pop sei eine Besonderheit, oder, negativ ausgedrückt, eine Anomalie. Genres wie Rock ziehen einen großen Teil ihrer Inhalte und Texte aus Misogynie, beherrsch(t)en aber dennoch den Markt. Da sei es nicht ungewöhnlich, dass auch das Schreiben über Frauen im Pop von misogynen Strukturen geprägt sei.

Die Podiumsdiskussion wurde daraufhin von Prof.in Dr.in Beate Flath eröffnet mit der Bemerkung, dass das Schreiben über Pop auf verschiedensten Ebenen passieren kann: Sie selbst und ihr Kollege Prof. Dr. Jacke beschäftigten sich auf einer wissenschaftlichen Ebene damit, während sich Eismann selbst journalistisch und Charlie Mio Marlin künstlerisch mit dem Thema befassten. In diesem Zusammenhang erzählt Charlie Mio Marlin, dass their Songs häufig aus sich selbst entstehen, die Texte schreiben sich sozusagen von selbst. Frust, Unsicherheit und auch Angst sind Emotionen, die they viel beim Komponieren und Texten beschäftigen, und die sich auch in their Leben als Künstler*in widerspiegeln. Wo und wann man auftritt, was man postet und welche Informationen man von sich preisgibt, habe auch immer damit zu tun, wie sehr man sich selbst verletzbar machen will. Wer auf der Bühne steht, gerade als FLINTA oder nonbinäre Person, muss mit Hasskommentaren und Schlimmeren rechnen, meint dazu auch Sonja Eismann.

Prof. Dr. Jacke berichtet, dass es schon seit langem eine Ungleichheit im Schreiben über Pop über die verschiedenen Geschlechter gibt, und dass diese Strukturen, auch wenn der Zweig der Popforschung eigentlich den Ruf des Innovativen und vielleicht Rebellischen hat, tief verwurzelt sind, sich gleichwohl über jüngere Genrationen ein Wandel in Bewegung gesetzt hat. 

Aus dem Publikum wird Sonja Eismann gefragt, ob es sich hierbei um ein deutsches Problem handle oder wie das Schreiben über Pop international behandelt werde. Tatsächlich sei Popfeminismus ein deutsches Phänomen, während im internationalen Raum (beziehungsweise im sogenannten popkulturellen Raum, der häufig im Diskurs auf den anglo-amerikanischen und europäischen Raum beschränkt wird) bis vor kurzem Pop und Popkultur eher belächelt wurde, auch im Feminismus. Deutschland sei in vielerlei Hinsicht “late to the party” – aber es ließe sich auch ein “wachsendes Bewusstsein” feststellen.

Schließlich wird aus dem Publikum die Frage an das Podium gestellt, ob in dem aktuellen, kapitalistischen System, das durch Hass und Ungerechtigkeiten Werte im Sinne von Klicks, Aufmerksamkeit und auf lange Sicht Geld schöpfen kann, überhaupt eine Änderung möglich ist. Auch wenn es auf diese Frage wohl kaum eine umfassende Antwort aus dem Stegreif geben kann, stellt Prof.in Dr.in Flath fest, dass das Schreiben über Pop als Form der Selbstermächtigung schon mal ein Schritt in die richtige Richtung sei. Gerade die Beleuchtung von Schattenseiten der Popkultur tragen zum besseren Verständnis und hoffentlich auf lange Sicht zu Veränderungen bei, ergänzt Prof. Dr. Jacke.

Den krönenden Abschluss liefert Charlie Mio Marlin mit der Live-Premiere des Songs “Ambrosia”. Das Publikum lauschte gebannt bis gerührt und bedankte sich mit euphorischem Applaus. Und entgegen der bisher vorherrschenden Stimmung wagte hier der Text sogar ein wenig Optimismus: 

“Wir wanken, aber fallen nie / Lang lebe die Utopie”

Text: Alyssia Schröder

Fotos: Gesine Flick

v.l.n.r.: Charlie Mio Marlin, Prof. Dr. Beate Flath, Sonja Eismann, Prof. Dr. Christoph Jacke, Prof. Dr. Annegret Thiem & Jule Feldner (Foto: Gesine Filck)
Charlie Mio Marlin bei musikalischer Performance (Foto: Gesine Flick)
Der G-Hörsääl während Sonja Eismanns Lesung (Foto: Gesine Flick)
Das Podium (v.l.n.r.): Sonja Eismann, Prof. Dr. Beate Flath, Charlie Mio Marlin & Prof. Dr. Christoph Jacke (Foto: Gesine Flick)
Sonja Eismann liest Kapitel aus ihrem neuen Buch "Candy Girls" vor. (Foto: Gesine Flick)