Das Steigerlied und die Trinkhallenkultur im Ruhrgebiet sind am 9. Juni 2021 offiziell als Immaterielles Kulturerbe in Nordrhein-Westfalen ausgezeichnet worden. Vertreterinnen und Vertreter der antragstellenden Kulturformen erhielten auf der Auszeichnungsveranstaltung im Ministerium für Kultur und Wissenschaft die Urkunde sowie ein handwerklich gefertigtes Glasobjekt. Bereits im vergangenen Jahr waren beide Ausdrucksformen in das Landesinventar für Immaterielles Kulturerbe aufgenommen worden. Neben der Auszeichnung und Anerkennung des ehrenamtlichen Engagements der antragstellenden Akteure wurde im Rahmen der Veranstaltung auch der Status quo des Immateriellen Kulturerbes in Nordrhein-Westfalen reflektiert und die bisherige Eintragungspraxis in das Landesinventar unter Berücksichtigung der Neuaufnahmen vorläufig bilanziert.
Das Landesinventar Immaterielles Kulturerbe in Nordrhein-Westfalen
In einem fortlaufenden Prozess ermittelt und dokumentiert das Land Nordrhein-Westfalen das kulturelle Erbe auf seinem Gebiet und führt dafür ein eigenes Landesinventar des Immateriellen Kulturerbes. Für eine entsprechende Eintragung können sich die Kulturträger beim Ministerium für Kultur und Wissenschaft NRW bewerben. Gesichtet werden die eingegangenen Bewerbungen zunächst von einer unabhängigen Landesjury, der die Kulturdezernentinnen der Landschaftsverbände Rheinland und Westfalen-Lippe, der Präsident der NRW-Stiftung sowie berufene Mitglieder aus den Bereichen Handwerk, Museum und Universität angehören. Die Evaluation der Landesjury dient dem Ministerium dann als Empfehlung, auf deren Grundlage über die Eintragungen entschieden wird. Neuaufnahmen in dieses Verzeichnis finden ebenso wie eine offizielle Auszeichnungsveranstaltung alle zwei Jahre statt. Letztere konnte dank sinkender Inzidenzwerte in diesem Jahr erfreulicherweise in Präsenz durchgeführt werden, auch wenn die Teilnehmerzahl entsprechend den Abstandsreglungen begrenzt war.
Begrüßung und Programm
Das Land wurde bei der diesjährigen Auszeichnungsveranstaltung durch den Parlamentarischen Staatssekretär Klaus Kaiser aus dem Ministerium für Kultur und Wissenschaft vertreten. Er nahm dabei die Würdigung, Urkundenübergabe und Auszeichnung der Trägergruppen des Steigerlieds und der Trinkhallenkultur im Ruhrgebiet vor. Die Veranstaltung wurde von Claudia Determann, Referatsleiterin für Föderale Kulturpolitik, Bundesrecht und UNESCO-Angelegenheiten im Ministerium für Kultur und Wissenschaft, eröffnet. Es folgte eine Ansprache von Professorin Eva-Maria Seng, Sprecherin der Landesjury und Leiterin der Landesstelle Immaterielles Kulturerbe NRW. Nach der Würdigung und Urkundenübergabe äußerten sich die Trägergruppen in kurzen Statements zu dem Bewerbungsverfahren, der Auszeichnung und ihren weiterführenden Überlegungen und Zielen auf nationaler und internationaler Ebene.
Status quo des Immateriellen Kulturerbes und Einordnung der Neuaufnahmen in das Landesinventar
Mit der reflexiven Frage „Wo stehen wir beim Immateriellen Kulturerbe?“ eröffnete Professorin Seng ihre Ansprache. Zunächst verortete sie die Eintragungspraxis in das nordrhein-westfälische Landesinventar als einen wichtigen föderalen Beitrag im Rahmen der UNESCO-Konvention zum Erhalt des Immateriellen Kulturerbes. Das Ziel der 2003 verabschiedeten und von mittlerweile 180 Vertragsstaaten ratifizierten Konvention sei die Förderung der Sichtbarkeit und des Bewusstseins der kulturellen Vielfalt auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene. Nachdem Deutschland der Konvention 2013 beigetreten ist, finden auch hier Eintragungen auf Landes-, Bundes- und internationaler Ebene statt.
Neben den von der UNESCO geführten internationalen Listen mit mittlerweile 584 Einträgen, wird auf nationaler Ebene seitens der Bundesrepublik das Bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes mit derzeit 126 Eintragungen geführt. Auf föderaler Ebene wiederum dokumentieren einige (nicht alle) Bundesländer entsprechende Kulturformen in Landeslisten. Das nordrhein-westfälische Landesinventar umfasst aktuell zwölf Eintragungen, wobei besonders zu betonen ist, dass aus allen Bereichen der Konvention (Bräuche, Handwerkstechniken, darstellende Künste, mündlich überlieferte Traditionen) sowie aus allen Landesteilen entsprechende Kulturformen vertreten sind.
Zu einer ausgeglichenen Liste kultureller Phänomene in Nordrhein-Westfalen tragen auch die neuesten Eintragungen – das Steigerlied und die Trinkhallenkultur im Ruhrgebiet – als urbane Kulturformen bei. Die bewusstere Wahrnehmung von Großstadtphänomenen ist dem Kulturministerium ein wichtiges und langfristiges Anliegen. Vor diesem Hintergrund wurde bereits 2019 die Tagung „StadtGemeinsamkeiten. Immaterielles Kulturerbe im urbanen Raum“ ins Leben gerufen (vgl. Tagungsbericht https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-8598).
Glasobjekte als sichtbares Zeichen der Anerkennung
Bevor es zur offiziellen Urkundenübergabe kam, wurden seitens des Ministeriums und der Landesstelle zwei Glasobjekte sowie ein Film vorgestellt, der deren Fertigung zeigt. Die amorphen Glasgebilde mit farbigem Einschluss, der auf das Logo des Landesinventars Bezug nimmt, wurden erstmals verliehen und sind eigens von Glasmachern entworfen und handgefertigt worden. Die Besonderheit der Objekte besteht darin, dass die „Manuelle Fertigung von mundgeblasenem Hohl- und Flachglas“ selbst als Immaterielles Kulturerbe im Bundesweiten Verzeichnis eingetragen ist, wodurch die neuen Aufnahmen in NRW durch ein von anderen Kulturerbeträgern hergestelltes Werk geehrt werden. Dadurch wird symbolisiert, dass beim Immateriellen Kulturerbe ganz unterschiedliche Kategorien von Kultur gleichwertig nebeneinanderstehen.
Auszeichnung des Steigerlieds
Nach der allgemeinen Reflexion zum Status quo des Immateriellen Kulturerbes in Nordrhein-Westfalen wurden die beiden Neueintragungen gewürdigt. Unter den mehr als 1.000 Bergmannsliedern, die im Laufe der deutschen Bergbaugeschichte entstanden sind, habe das Steigerlied eine Sonderstellung inne, konstatierte der Parlamentarische Staatssekretär Klaus Kaiser. Es sei die „Hymne und das bekannteste Lied des Bergbaus“ und habe dort, aber auch in anderen Milieus, eine große und bis heute anhaltende Popularität erlangt. Im Steigerlied drückten sich das Standesbewusstsein der Bergleute und die Bergmannsehre aus. Bis heute entfalte es seine identitätsstiftende Wirkung über den Kontext des Bergbaues hinaus in Nordrhein-Westfalen.
Bei der Übergabe der Urkunde und des Glasobjekts an die beiden Vertreter des antragstellenden Vereins Ruhrkohle Musik wies der Parlamentarische Staatssekretär Kaiser darauf hin, dass das Steigerleid, welches er als Schüler gelernt habe, „als Nationalhymne des Bergbaus“ zu verstehen sei, die aber nicht nur für das Ruhrgebiet, sondern darüber hinaus auch für andere Bergbaugebiete prägend sei. Damit war auch das Erzgebirge gemeint, welches als Entstehungsort des Steigerlieds gilt. Entscheidend für die Eintragung in die Landesliste ist aber nicht die lokale Verortung des Ursprunggebietes, sondern der Sitz der antragsstellenden Organisation (Anmerkung des Autors). Das Steigerlied, so Kaiser weiter, stifte Zusammenhalt und werde auch in 100 Jahren noch einen besonderen Stellenwert im Ruhrgebiet einnehmen.
Nach der offiziellen Urkundenübergabe bedankte sich Vorstandsmitglied Andreas Artmann im Namen des Ruhrkohle Musik e.V. für die Auszeichnung und Unterstützung im Laufe des Bewerbungsverfahren. Die Eintragung in das Landesinventar sei eine „große Freude und Ehre zugleich“ und ein besonderes Zeugnis der Wertschätzung der bergmännischen Leistungen und ihrer Kultur. Das Anliegen des Ruhrkohle-Chores bestehe darin, die Bedeutung des Liedes und der darin zum Ausdruck kommenden bergmännischen Tradition auch künftigen Generationen vertraut zu machen. Vor diesem Hintergrund sei die heutige Auszeichnung auf Landesebene als Etappe und Ermutigung zu verstehen, denn ein entsprechender Antrag zur Aufnahme in das Bundesweite Verzeichnis solle noch in diesem Jahr gestellt werden. Diesbezüglich seien bereits Gespräche mit anderen nationalen und internationalen Akteuren und Chören geführt worden, um eine gemeinsame Bewerbung voranzutreiben. Der Austausch mit den verschiedenen Akteuren und Landesverbänden zeige auf, „dass die bergmännische Liedtradition, die Identifikation und das Engagement für diese in ganz Deutschland mit Hand und Herz gelebt und in die Zukunft getragen wird“, so Artmann. Da auch in vielen anderen europäischen Ländern die bergmännische Kultur gepflegt werde, sehe man auch die Chance, „dass eine mögliche Eintragung in das Bundesweite Verzeichnis eine Etappe auf dem Weg zur Anerkennung der Bergmannslieder als europäisches Kulturgut darstellt.“
Auszeichnung der Trinkhallenkultur im Ruhrgebiet
Nach dieser folgte die offizielle Auszeichnung der Trinkhallenkultur im Ruhrgebiet. Trinkhallen seien Orte mit wichtiger sozialer Funktion, die einen Treffpunkt der Nachbarschaft und darüber hinaus einen Ort der Integration und des Austausches darstellen würden, machte der Parlamentarische Staatssekretär Kaiser bei der Urkundenübergabe und Verleihung des Glasobjekts deutlich. Ein besonderer Bezug zu Nordrhein-Westfalen sei unzweifelhaft gegeben, da kaum ein Ort seine Region so gut in seiner sozialen Struktur beschreibe, wie die Trinkhalle das Ruhrgebiet. Die Trinkhalle zeichne sich durch ihr typisches Sortiment und ihre Offenheit als Kontaktbörse aus. Sie sei ein „Kristallisationspunkt“ und Forum, um sich beispielsweise über Sport, den Wohnungsmarkt oder Politik auszutauschen. Auch aus historischer Sicht habe die Trinkhalle vielschichtig ihre Region und das Zeitalter der Industrialisierung geprägt. Der amerikanische Stadtsoziologe Ray Oldenburg spreche bei der Analyse ähnlicher Typologien von sogenannten „Dritten Orten“ neben dem zu Hause (erster Ort) und dem Arbeitsplatz (zweiter Ort).
Die Auszeichnung nahm stellvertretend Marie Enders entgegen, die sich für die Bewerbung verantwortlich zeigte und als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Städtebau an der RWTH Aachen die sozialen Funktionen der Trinkhallen als „Dritter Ort“ untersucht. Bereits in ihrer Masterarbeit hatte sie sich mit den Trinkhallen auseinandergesetzt und arbeitete vor dem Hintergrund ihrer soziokulturellen Bedeutung für das Ruhrgebiet die Bewerbung zur Aufnahme in das Landesinventar aus. Ihr Anliegen bestehe darin, das Logo des Landesinventars und die Auszeichnung an die Akteure und Träger der Trinkhallen zurückzuführen. Derzeit werde eine Inventarisierung der Trinkhallen im Ruhrgebiet durchgeführt, auf deren Grundlage ein Trägerschaftsmodell entwickelt werden könne. So gesehen sei die heutige Auszeichnung nur ein „Trittstein auf einem weiteren Weg“, so Enders.
Austausch und Ausblick
Im Anschluss an das Programm zeigten sich im gemeinsamen Gespräch Überschneidungen und Wechselwirkungen der beiden ausgezeichneten Kulturformen. So wies Andreas Artmann vom Ruhrkohle Musik e.V. darauf hin, dass es durchaus passend sei, dass die Trinkhallenkultur im Ruhrgebiet und das Steigerlied „hier und heute gemeinsam ausgezeichnet werden“. Denn die dritte Schicht des Bergmanns sei traditionell „anner Bude“ gewesen, ehe es zum Feierabend nach Hause ging. Allein an diesem kleinen Beispiel wird deutlich, dass eine solche Auszeichnungsveranstaltung nicht nur der Anerkennung der Kulturformen dient, sondern darüber hinaus Austausch- und Vernetzungsmöglichkeiten schafft, die verschiedene Trägergruppen und kulturelle Phänomene zusammenführt und für diese neue Verknüpfungspunkte schaffen und Reflexionsprozesse anregen kann.
Für die nächste Runde des Auswahlverfahrens können sich Kulturträger noch bis zum 30. November 2021 beim Ministerium für Kultur und Wissenschaft bewerben. Unterstützung beim Bewerbungsprozess leistet die Landestelle Immaterielles Kulturerbe NRW, die am Lehrstuhl für Materielles und Immaterielles Kulturerbe der Universität Paderborn angesiedelt ist.
Landesinventar Immaterielles Kulturerbe NRW
https://www.mkw.nrw/kultur/arbeitsfelder/immaterielles-kulturerbe
Landesstelle Immaterielles Kulturerbe NRW, Universität Paderborn
https://kw.uni-paderborn.de/historisches-institut/kulturerbe/landesstelle-immaterielles-kulturerbe-nrw/