Landesstelle Immaterielles Kulturerbe NRW

Die Landesstelle Immaterielles Kulturerbe NRW unterstützt Bewerberinnen und Bewerber im Verfahren um die Aufnahme von kulturellen Ausdrucksformen in das Inventar des Immateriellen Kulturerbes von Nordrhein-Westfalen und die weiteren nationalen und internationalen Listen.
Sie arbeitet im Auftrag des Ministeriums für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen (MKW) und ist angesiedelt am Lehrstuhl für Materielles und Immaterielles Kulturerbe an der Universität Paderborn.
Gerne beantworten wir Ihre Fragen zur Bewerbung und beraten und unterstützen Sie im Antragsverfahren. Weitere Informationen finden Sie auf den Internetseiten des Ministeriums für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen und der Deutschen UNESCO-Kommission e.V. Immaterielles Kulturerbe (IKE) in Nordrhein-Westfalen sind lebendige Traditionen, die in das Landesinventar eingetragen sind. Trägergruppen dürfen nach der Freigabe durch das Kulturministerium das IKE-Landeslogo verwenden.
Leitung

Prof. Dr. Prof. h.c. mult. (HAUST, LIT) Eva- Maria Seng
Fakultät für Kulturwissenschaften - Historisches Institut - Materielles und Immaterielles Kulturerbe
Mersinweg 3
33100 Paderborn
Office hours
Werden bis auf weiteres telefonisch durchgeführt (i. d. R. nach vorheriger Vereinbarung per E-Mail)
Ansprechpartnerin

Dr. Maria Harnack
Fakultät für Kulturwissenschaften - Historisches Institut - Materielles und Immaterielles Kulturerbe
Mersinweg 3
33100 Paderborn
Office hours
dienstags, 16–17 Uhr
Aktuelles

Die Generalkonferenz der UNESCO hat am 17. Oktober 2003 in Paris das Übereinkommen zur Erhaltung des Immateriellen Kulturerbes verabschiedet, das die Bundesrepublik Deutschland zehn Jahre später, am 10. April 2013, angenommen hat. Im Jahr 2023 feiern Bund, Länder, Forschungseinrichtungen und zivilgesellschaftliche Organisationen das 20-jährige Jubiläum dieses völkerrechtlichen Vertrags und dessen 10-jährige Umsetzung in Deutschland. Am 2. März hat das Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen in Kooperation mit der Deutschen UNESCO-Kommission die Auftaktveranstaltung der Länder zum Festjahr ausgerichtet. Dabei wurden Kulturerbeträger:innen, Vertreter:innen aus der Kulturpolitik, Kulturverwaltung und von Nichtregierungsorganisationen, Forschende und Studierende aus unterschiedlichen Fachrichtungen (u.a. Kulturerbe, Empirische Kulturwissenschaft, Geschichte, Kunstgeschichte, Sprachwissenschaft, Geografie, Städtebau) sowie interessierte Bürger:innen zusammengebracht. Anliegen der Tagung war es, die historischen Entwicklungen der Konvention, ihre Umsetzung in Deutschland sowie aktuelle Positionen zum Immateriellen Kulturerbe in vergleichender Perspektive mit Beiträgen und Erfahrungsberichten aus China, Lettland, Frankreich, Luxemburg und Deutschland zu reflektieren und zu diskutieren. Weiterhin diente die Veranstaltung dem Austausch und der Vernetzung der am Immateriellen Kulturerbe beteiligten Organisationen und Personen aus Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft.
In ihrem Eröffnungsvortag führte Eva-Maria Seng (Paderborn), die als Inhaberin des Lehrstuhls für Materielles und Immaterielles Kulturerbe sowie Leiterin der Landesstelle Immaterielles Kulturerbe NRW an der Universität Paderborn die Veranstaltung moderierte, zunächst in die Genese und historische Entwicklung des Übereinkommens und seiner Umsetzung in Deutschland ein. In der Konvention und dem Umsetzungsverfahren werde neben dem Kriterium der dynamischen Tradierung insbesondere Wert auf eine offene, inklusive und partizipative Praxis sowie eine differenzierte historische Reflexion gelegt. Dabei erzeuge „die Fluidität des Konzeptes und die Offenheit des Begriffs auch im Hinblick auf die Nivellierung von Hoch- und Alltagskultur sowie Stadt- und Landkultur gesellschaftliche Akzeptanz und Relevanz in der Bevölkerung.“ Bezugnehmend auf die programmatische Ausrichtung der Veranstaltung verwies Seng darauf, dass die Konzeption dem Anliegen der UNESCO-Konvention von 2003 folge, das Bewusstsein für das Immaterielle Kulturerbe in der Öffentlichkeit zu stärken, eine möglichst weitreichende Beteiligung der Trägergruppen zu ermöglichen und die wissenschaftliche Forschung, Begleitung und Unterstützung im Bereich des Immateriellen Kulturerbes zu forcieren.
In seinem Grußwort hob Falko Mohrs, niedersächsischer Minister für Kultur und Wissenschaft sowie Vorsitzender der Kultusministerkonferenz, die zentrale Bedeutung des Immateriellen Kulturerbes für den gesellschaftlichen Zusammenhalt gerade auch in herausfordernden Zeiten hervor und erklärte die Umsetzung des Übereinkommens zu einer der wichtigsten Aufgaben in seinem Haus. Das Immaterielle Kulturerbe sei regional und lokal verankert und entspreche so der föderalen Struktur und dem demokratischen Bewusstsein in Deutschland in besonderer Weise. Die Umsetzung der Konvention erzeuge auch einen wichtigen und wertvollen Austausch zwischen Bund, Ländern, Forschungseinrichtungen und zivilgesellschaftlichen Organisationen. Ina Brandes, Ministerin für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen, betonte in ihrem Grußwort die prägende Wirkung von Immateriellem Kulturerbe und die Relevanz der Konvention in Deutschland und Nordrhein-Westfalen. Sie verwies dabei auf die wichtige Aufgabe der Wissenschaft, beratend und unterstützend mit den Akteurinnen und Akteuren zusammenzuarbeiten. Stellvertretend hob sie das große Engagement und die erfolgreiche Arbeit der Landesstelle Immaterielles Kulturerbe NRW an der Universität Paderborn hervor. Eine zentrale Aufgabe für die Bildung und Forschung sei es weiterhin, den etwas sperrig klingenden Begriff „Immaterielles Kulturerbe“ zu „entstauben“ und insbesondere für junge Menschen zugänglich zu machen und das Bewusstsein der zivilgesellschaftlichen und kulturellen Bedeutung des Immateriellen Kulturerbes zu stärken. Der stellvertretende Intendant des tanzhaus nrw, Stefan Schwarz, stellte die symbolische Bedeutung der Veranstaltungslokation heraus, sei diese doch ein lebendiger Ort des Immateriellen Kulturerbes, an dem Menschen aller Altersgruppen und aus unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereichen zusammenkommen, um sich kreativ, körperlich und tänzerisch auszudrücken.
Die Sektion der Vorträge eröffnete Susanne Schnüttgen (Paris), die kurzfristig Tim Curtis, Sekretär des Übereinkommens zur Erhaltung des Immateriellen Kulturerbes bei der UNESCO, vertrat. Sie reflektierte in ihrem Beitrag die Meilensteine der Konvention und ihrer weltweiten Umsetzung sowie die Potenziale des Übereinkommens. Das große Interesse an der Konvention und ihre nahezu universelle Anerkennung durch die Ratifizierung von 181 Mitgliedstaaten sei der offensichtlichste Ausdruck des Erfolgs und dürfte damit die anfänglichen Erwartungen weit übertroffen haben. Eine der größten Leistungen der Konvention sei in der Bewusstseinsbildung für das Immaterielle Kulturerbe in den letzten 20 Jahren zu sehen. Um weitere Potenziale der Konvention zu entwickeln, habe die UNESCO verschiedene Programme auf den Weg gebracht, wie das globale Kapazitätenprogramm, durch welche Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Konvention zielgerichtet durch Beratungs- und Forschungszentren sowie durch Universitäten unterstützt werden. Ein weiterer Fokus liege auch im Bereich der formellen und informellen Bildung. So könne eine Vielzahl kultureller Praktiken einen lebensweltnahen und wichtigen Beitrag in unterschiedlichsten Fächern leisten. Hier sei es durch konkrete Maßnahmen gelungen, die Potenziale für die Bildung und die Bewusstseinsbildung der Schülerinnen und Schüler, aber auch der Lehrkräfte für das Immaterielle Kulturerbe zu stärken und durch die wechselseitige Zusammenarbeit zwischen Schulen, Trägergruppen und Politik fruchtbar zu machen. Eine wichtige Aufgabe liege darin, eine stärkere Ausgeglichenheit der drei Listen des Immateriellen Kulturerbes zu erreichen, junge Menschen stärker einzubinden sowie das Immaterielle Kulturerbe in Afrika stärker zu berücksichtigen.
In einem Podiumsgespräch diskutierten Eva-Maria Seng und Olaf Zimmermann (Berlin) über die Gründe für den späten Beitritt Deutschlands zur Konvention. Zimmermann sieht drei zentrale Gründe: Erstens habe man sich in Deutschland aufgrund der europäischen und deutschen Überrepräsentation auf der Welterbeliste zunächst bewusst zurückhalten wollen. Zweitens sei der erweiterte Kulturbegriff der UNESCO von 1982 erst durch die Verabschiedung der Konvention 2003 in Deutschland in seiner ganzen Tragweite rezipiert und diskutiert worden, womit anfänglich auch Irritationen und Kontroversen hinsichtlich des Verhältnisses von Hoch- und Breitenkultur einhergegangen seien. Ein weiterer Grund sei drittens die aus der Kulturhoheit der Länder resultierende Zuständigkeitsfrage zwischen Bund und Ländern. In Bezugnahme auf entsprechende Bundestagsprotokolle stellte Seng heraus, dass weiterhin Bedenken hinsichtlich einer zunehmenden Bürokratisierung, der ungeklärten Finanzierung und möglicher politischer Instrumentalisierungen bestanden hätten. Letztere seien dabei immer wieder mit Verweis auf die deutsche Geschichte und die Gefahren einer „Deutschtümelei“ und Kategorisierung als „typisch deutsch“ artikuliert worden. Zudem habe man durch ein falsches Verständnis der Konvention die Integrationsprozesse in Deutschland gefährdet gesehen. Mit Blick auf die Gegenwart und Zukunft verweist Zimmermann darauf, dass nun die „Frage des Danachs“ und damit einhergehend die Frage der Verantwortungsbereiche zu klären sei. Bei einem reinen Ehrentitel „Immaterielles Kulturerbe“ dürfe es nicht bleiben, vielmehr müssten verschiedene Aspekte wechselseitig ineinandergreifen. Nicht zuletzt sei hier auch die Kulturpolitik auf Bundesebene gefragt. Obgleich des um 10 Jahre verspäteten Beitritts Deutschlands zur Konvention bilanzierte Zimmermann in der Gesamtschau positiv, dass er kaum einen Bereich kenne, „der so holprig begonnen hat und dann so erfolgreich wurde.“ Schließlich könne das Immaterielle Kulturerbe, so Seng, als „Lackmusfolie für gesellschaftliche Diskurse“ wie Kolonialismus, Rassismus und Antisemitismus verstanden werden und biete die Möglichkeit, diese Problemfelder in der Alltagskultur zu verhandeln.
Anying Chen (Peking) gab in seinem Videovortrag Einblicke in das Thema Revitalisierung des Immateriellen Kulturerbes im Bereich Handwerk und Design am Beispiel der Lackkunst. China ratifizierte die Konvention bereits 2004 und identifizierte zwischen 2004 und 2014 nahezu 870.000 Phänomene des Immateriellen Kulturerbe auf dem eigenen Staatsgebiet. Inzwischen sind 42 kulturelle Ausdrucksformen auf der repräsentativen UNESCO-Liste eingetragen. 2011 wurde ein Gesetz zum Immateriellen Kulturerbe erlassen, welches den gesamten Bereich der Erhaltung und Erfassung regelt. Insbesondere traditionelle Handwerkstechniken seien daraufhin wieder stärker sichtbar gemacht und unter Gesichtspunkten der Weitergabe und Weiterentwicklung „revitalisiert“ worden. Die Ausbildung, Vermittlung und Anwendung von Techniken und handwerklichem Können im Umgang mit traditionellen Werkstoffen werde dabei insbesondere an Universitäten in enger Kooperation mit der Industrie forciert. Seit 2015 hätten sich über 100 Universitäten an einem vom Ministerium für Kultur und Tourismus finanzierten Forschungs- und Trainingsprogramm zum Immateriellen Kulturerbe beteiligt. Ein zentrales Forschungszentrum auf diesem Gebiet und eine Plattform für die Erfassung und Transformation traditionellen Immateriellen Kulturerbes im Bereich des Designs wird dabei von Chen an der Tsinghua-Universität Peking geleitet.
In ihrem Vortrag beleuchtete Anita Vaivade (Riga) Dialoge zwischen internationalem und nationalem Recht und den damit verbundenen konzeptionellen Wandel im Bereich des Kulturerbes. Das globale Konzept des Immateriellen Kulturerbes sei seit der Verabschiedung der Konvention weltweit auf unterschiedlichen Wegen in nationale Gesetze und in die Rechtssprache implementiert worden und so Gegenstand von politischen Diskursen vor Ort geworden. Die Sensibilisierung und Bewusstseinsbildung für das Immaterielle Kulturerbe in anderen Politik- und Rechtsbereichen jenseits von Kultur und Bildung sowie die Anerkennung der Bedeutung dieses Erbes sei indes ein fortwährender und nicht abgeschlossener Prozess. Neben dem globalen Einfluss des Übereinkommens für das nationale Recht würden aber umgekehrt auch die rechtlichen und politischen Entwicklungen und Auslegungen in den jeweiligen Staaten auf das Verständnis von Immateriellem Kulturerbe auf internationaler Ebene einwirken. Hinsichtlich der Verdeutlichung des Gedankens der kulturellen Vielfalt des Immateriellen Kulturerbes sei die bisherige Nominierungspraxis Deutschlands für die internationalen UNESCO-Listen wertvoll und perspektiverweiternd gewesen. So haben die deutschen Nominierungen und Eintragungen wie die Genossenschaftsidee (2016) oder jüngst der moderne Tanz (2022) weltweit Diskussionen und Aushandlungen über den Interpretationsspielraum des Immateriellen Kulturerbes angeregt und bereichert. Dies habe zu einem erweiterten Verständnis geführt und lade zu weiteren Dialogen über die gegenwärtigen und zukünftigen Vorstellungen des Immateriellen Kulturerbes ein.
In der anschließend von Eva-Maria Seng moderierten Podiumsdiskussion diskutierten Kulturpolitiker:innen, Wissenschaftler:innen und Vertreter:innen von Verbänden und der Deutschen UNESCO-Kommission über die historischen Entwicklungen, bisherigen Leistungen und zukünftigen Potenziale der Konvention. Dabei betonte Sabine Bengel (Straßburg) als Vertreterin der eingetragenen Kulturform des Bauhüttenwesens, dass mit dem Bewerbungsverfahren des Immateriellen Kulturerbes bei den Trägergruppen ein Reflexions- und Selbstfindungsprozess einhergegangen sei, der zu einem gemeinsamen Antrag und verbesserten Austausch verschiedener Einrichtungen in Europa geführt habe. Potenziale würden aus ihrer Sicht zukünftig darin liegen, Modellprogramme und gute Praxisbeispiele wie das Bauhüttenwesen weiterzuentwickeln und auf andere Bereiche auszuweiten. Werner Mezger (Freiburg) wies darauf hin, dass die Konvention zum Erhalt des Immateriellen Kulturerbes die Möglichkeit gebe, die in den letzten Jahren vernachlässigte Brauchforschung mit neuen Impulsen zu versehen und wieder stärker zu machen. Schließlich ermögliche die Auseinandersetzung mit den Phänomenen des Immateriellen Kulturerbes einen Blick in „das Schatzkästchen des kulturellen Kapitals“ in Europa und darüber hinaus. Optimierungsbedarf sieht Mezger derweil beim Bewerbungsverfahren und den Anforderungen für die Trägergruppen. Problematisch für diese sei dabei die elaborierte Sprache der Experten, die weit „von der Lebenswelt der Akteure entfernt“ sei. Man müsse verhindern, dass die Diskurse des Immateriellen Kulturerbes „zu Monologen der Experten über die Akteure werden“. Die Experten dürften nicht „ungewollt die Deutungshoheit an sich ziehen, während die Akteure ja eigentlich die Kompetenz haben.“ Er plädierte dafür, „aus dem Monolog stärker einen Dialog zu machen“, da es – das sei schon ein Kredo der alten Volkskunde gewesen – „nicht um Kulturformen, sondern um Menschen gehe“. Weiterhin sei stärker zu erforschen, was sich die Akteure eigentlich konkret von einer Bewerbung und Aufnahme auf eine der Listen versprechen und erhoffen würden. Patrick Dondelinger (Luxemburg) appellierte dafür, dass die Konvention und das Bewerbungsverfahren weniger als eine Art „Kür oder Competition“ wahrgenommen werden sollten. An der Basis dürfe nicht der Eindruck eines Numerus Clausus entstehen. Annette Schneider-Reinhardt (Bonn) verwies darauf, dass der BHU lange auf die Ratifizierung der Konvention in Deutschland gedrängt und gewartet habe, da Heimat wie das Immaterielle Kulturerbe ein Querschnittsthema sei. Insbesondere für die Empirische Kulturwissenschaft sieht sie den Auftrag, im Austausch mit den Trägergruppen unterstützend tätig zu werden und im Spiegel der Konvention bestehende und neue Felder des Faches unter neuen Blickwinkeln zu erschließen, wie beispielsweise die wechselseitige Betrachtung von Immateriellem Kulturerbe und Kulturlandschaften. Auf das Potenzial des Immateriellen Kulturerbes hinsichtlich der nachhaltigen Entwicklung und der Stärkung von marginalisierten Gruppen verwies Marlen Meißner (Bonn) von der Deutschen UNESCO-Kommission. Für die Zukunft sei dabei wichtig, dass der erweiterte Kulturbegriff der UNESCO von 1982 noch stärker in die deutsche Gesellschaft getragen und dort verankert werde. Kultur solle nicht nur als Hochkultur, sondern als „Way of Life“ verstanden werden, der von alltäglichen Praktiken und Bräuchen gekennzeichnet sei. Mit Blick auf das Bundesweite Verzeichnis wäre aus ihrer Sicht wünschenswert, dass die „Listen noch etwas bunter, etwas jünger, weiblicher und auch migrantischer werden.“ Dass einige kulturelle Phänomene im Bundesweiten Verzeichnis noch unterrepräsentiert seien, stellte auch Jörg Stüdemann (Dortmund) vom Kulturausschuss des Städtetages in NRW heraus. So sei beispielsweise die jüdische Kultur und die Kultur der Sinti und Roma in Deutschland noch unzureichend berücksichtigt. Als große Erfolge der Konvention betonte er, dass die Themen und Anliegen des Immateriellen Kulturerbes im „politischen Feld“ deutlich sichtbarer und stärker berücksichtigt würden. Waren Förderungs- und Unterstützungsangebote vormals abgelehnt bzw. gar nicht erst zur Diskussion gestellt worden, habe sich dies in der politischen Arbeit mit Verweis auf die Konvention deutlich gewandelt und verbessert. Zukünftig bestehe die Aufgabe darin, in Analogie zum Denkmalschutzgesetz, einen Rechtsrahmen für das Immaterielle Kulturerbe zu schaffen.
Im Anschluss an die Vorträge und Podiumsdiskussionen wurden in vier Workshops die Themen „Immaterielles Einwanderungserbe“, „Beteiligung junger Menschen am Immateriellen Kulturerbe“, „Weitergabe von Handwerkswissen am Beispiel des Bauhüttenwesens“ sowie „Tanz: gemeinsam in Bewegung“ reflektiert, Herausforderungen identifiziert und Zukunftsperspektiven diskutiert. In einer Abschlussdiskussion wurden die Ergebnisse und Anregungen zusammengeführt und die Themen der Tagung abschließend bilanziert.
Einführung und Grußworte
Eva-Maria Seng (Paderborn): Begrüßung und Einführung
Falko Mohrs (Hannover): Grußwort des Ministers für Wissenschaft und Kultur des Landes Niedersachsen sowie Vorsitzenden der Kulturministerkonferenz
Ina Brandes (Düsseldorf): Grußwort der Ministerin für Wissenschaft und Kultur des Landes Nordrhein-Westfalen
Stefan Schwarz (Düsseldorf): Grußwort des stellvertretenden Intendanten des tanzhaus nrw
Vorträge und Podiumsdiskussionen
Tim Curtis in Vertretung durch Susanne Schnüttgen (Paris): 20 Years on, Impacts and Prospekts for UNESCO’s 2003 Convention for the Safeguarding of Intangible Cultural Heritage
Eva-Maria Seng (Paderborn) und Olaf Zimmermann (Berlin): Deutschland und das 2003er Übereinkommen – Ratifikation, Umsetzung, Entwicklung
Anying Chen (Peking): Revitalizing the Intangible Cultural Heritage. Craft Revival in Today’s China
Anita Vaivade (Riga): Conceptual Dialogues Between International and National Laws Relating to Intangible Cultural Heritage
Sabine Bengel (Straßburg), Patrick Dondelinger (Luxemburg), Marlen Meißner (Bonn), Werner Mezger (Freiburg), Annette Schneider-Reinhardt (Bonn) Jörg Stüdemann (Dortmund), Eva-Maria Seng (Paderborn): Podiums- und Plenumsdiskussion
Workshops
Immaterielles Kulturerbe, Immaterielles Einwanderungserbe (Deutschlandstiftung Integration)
Für eine stärkere Beteiligung junger Menschen am Immateriellen Kulturerbe (Junges Forum der Deutschen UNESCO-Kommission)
Weitergabe von Handwerkswissen und -techniken im Bauhüttenwesen – Erhaltung, Vermittlung, Förderung (Kölner Dombauhütte)
Tanz: Gemeinsam in Bewegung (tanzhaus nrw)
(Erstveröffentlichung bei H/SOZ/KULT am 19.07.2023)
Das Bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes ist um 13 Einträge reicher. Mit dabei sind die klassische Reitlehre in Deutschland, das Singen des Steigerlieds und der Zirkus als eigenständige Form der Darstellenden Kunst. Das Land Nordrhein-Westfalen hatte die Kulturformen im letzten Jahr zur Aufnahme vorgeschlagen. Am 1. April 2023 beginnt die nächste Bewerbungsrunde.
Das Immaterielle Kulturerbe steht in diesem Jahr 2023 besonders im Mittelpunkt: Die Welt feiert das 20-jährige Bestehen des UNESCO-Übereinkommens zur Erhaltung des Immateriellen Kulturerbes von 2003. Deutschland ist der Konvention vor zehn Jahren beigetreten und erstellt seitdem in einem gemeinsamen Verfahren der Länder und des Bundes das Bundesweite Verzeichnis, das eine Grundlage für die Erhaltung, Entwicklung und Förderung des Immateriellen Kulturerbes ist. Dabei bietet der Aufnahmeprozess auch den Trägergruppen eine gute Gelegenheit, die Geschichte und aktuelle Praxis ihrer Tradition zu reflektieren. Dass die klassische deutsche Reitlehre, das Steigerlied und der Zirkus gesellschaftlich verankert, wandlungsfähig, offen und inklusiv sind und zur kulturellen Vielfalt und Kreativität beitragen, haben die Landesjury für das Immaterielle Kulturerbe in Nordrhein-Westfalen und das Fachkomitee bei der Deutschen UNESCO-Kommission e.V. als unabhängige, sachkundige Gremien bestätigt.
Weitere Informationen finden Sie im Bundesweiten Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes:
Klassische Reitlehre in Deutschland
Zirkus als eigenständige Form der Darstellenden Kunst
Am 1. April 2023 beginnt die inzwischen sechste Bewerbungsrunde zur Aufnahme von Kulturformen in das Landesinventar des Immateriellen Kulturerbes von Nordrhein-Westfalen und das Bundesweite Verzeichnis. Gruppen und Gemeinschaften, die mündliche Ausdrucksweisen, Bräuche, Rituale, darstellende Künste, traditionelle Handwerkstechniken oder Naturwissen pflegen und weitergeben, können sich bis zum 31. Oktober 2023 in ihrem Bundesland bewerben. Die Landesstelle Immaterielles Kulturerbe NRW an der Universität Paderborn berät und unterstützt hierbei gerne. Kontakt: landesstelle@ike.upb.de, +49 5251 60-5462.
Drei Kulturformen und ein Gute-Praxis-Beispiel erhalten die Auszeichnung: der Belecker Sturmtag, die klassische deutsche Reitlehre und der Zirkus sowie die Vermittlung des wissenschaftlichen, insbesondere astronomischen Weltbilds in Planetarien.
Im Jahr 2022 ist das Landesinventar des Immateriellen Kulturerbes von Nordrhein-Westfalen um vier weitere auf insgesamt 16 Einträge angewachsen. Bei einem Festakt am 24. November im Haus der Stiftungen in Düsseldorf überreicht Gonca Türkeli-Dehnert, Staatssekretärin im Ministerium für Kultur und Wissenschaft, den Vertreterinnen und Vertretern der neu aufgenommenen „lebendigen Traditionen“ die Urkunde und ein manuell gefertigtes Glasobjekt als Zeichen der Anerkennung. Der Erhalt und die Pflege von Immateriellem Kulturerbe wie mündlichen Ausdrucksweisen, darstellenden Künsten, Bräuchen, Ritualen, Naturwissen und traditionellen Handwerkstechniken sind ein Schwerpunkt der Kulturförderung des Landes Nordrhein-Westfalen. Auf diese Weise soll das Geschichtsbewusstsein gestärkt und das kulturelle Gedächtnis lebendig gehalten werden.
Staatssekretärin Türkeli-Dehnert sagt: „Zahlreiche, oft alltägliche Dinge, Gewohnheiten, Traditionen und Bräuche prägen das kulturelle Erbe Nordrhein-Westfalens. Sie sind identitätsstiftend und schaffen ein Gefühl der Zusammengehörigkeit. Wir wollen diese Traditionen und Bräuche lebendig halten und sichtbar machen. Die Aufnahme ins Landesinventar ist ein Zeichen unserer großen Wertschätzung dieser Bräuche und Traditionen.“
Als Sprecherin der Landesjury für das Immaterielle Kulturerbe hebt Prof. Dr. Eva-Maria Seng hervor: „In diesem Jahr wurde in Nordrhein-Westfalen erstmals auch ein Gute-Praxis-Beispiel in das Landesinventar eingeschrieben. Die Tätigkeit der Planetarien ist von größter Bedeutung für die Weitergabe von Wissen um die Natur und das Universum an Kinder, Jugendliche und Erwachsene und regt dazu an, Fragen der Nachhaltigkeit und der Endlichkeit von Ressourcen zu reflektieren. Durch ihre Effektivität und Übertragbarkeit auf andere Kulturerbebereiche außerhalb der Astronomie stellt die Praxis ein Modellprogramm der Erhaltung Immateriellen Kulturerbes dar, das zum Nachahmen anregen soll.“
Hintergrund ist die Umsetzung des UNESCO-Übereinkommens zur Erhaltung des Immateriellen Kulturerbes von 2003, dem die Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2013 beigetreten ist. Infolgedessen hat der Staat die Aufgabe, Verzeichnisse des Immateriellen Kulturerbes auf seinem Gebiet zu erstellen. Aufgrund der Kulturhoheit der Länder können sich Gruppen und Gemeinschaften, die Träger kultureller Ausdrucksformen sind, in einem zweijährigen Turnus in ihrem Bundesland um die Aufnahme in das „Bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes“ bewerben. Nordrhein-Westfalen führt aufgrund der Vielfalt seines kulturellen Lebens zudem ein eigenes Landesinventar des Immateriellen Kulturerbes.
Die nächste Bewerbungsrunde beginnt voraussichtlich im Frühjahr 2023. Weitere Informationen, Beratung und Unterstützung bietet die Landesstelle Immaterielles Kulturerbe NRW an der Universität Paderborn allen Interessierten und Bewerbenden kostenfrei an. Kontakt: landesstelle@ike.upb.de, Tel. 05251 605462. Siehe auch: www.kulturerbe-forschung.de.


Neueinträge in der Landesliste sind der Belecker Sturmtag, die klassische deutsche Reitlehre, die Vermittlung des wissenschaftlichen, insbesondere astronomischen Weltbilds in Planetarien und der Zirkus
Lebendige Traditionen wie Bräuche, darstellende Künste und Naturwissen haben eine hohe Bedeutung für die Menschen in Nordrhein-Westfalen und darüber hinaus. Sie sind Ausdruck und zugleich Motor kultureller Vielfalt, Kreativität und nachhaltiger Entwicklung. Alle zwei Jahre können sich Gruppen, Gemeinschaften und Einzelpersonen um die Anerkennung ihrer Kulturform als Immaterielles Kulturerbe in ihrem Bundesland bewerben. Vier weitere Traditionen werden jetzt neu in das Landesinventar aufgenommen: der Belecker Sturmtag, die klassische deutsche Reitlehre, die Vermittlung des wissenschaftlichen, insbesondere astronomischen Weltbilds in Planetarien und der Zirkus. Damit wächst das Landesinventar auf insgesamt 16 Einträge an.
Kulturministerin Isabel Pfeiffer-Poensgen gratuliert den Trägergruppen der Kulturformen zu diesem Erfolg: „Wir möchten die Anerkennung, Erhaltung und Entwicklung des Immateriellen Kulturerbes sicherstellen. Das Verzeichnis trägt dazu bei, das Bewusstsein für den Wert menschlichen Wissens und Könnens in der Gesellschaft zu stärken und insbesondere auch junge Menschen dafür zu sensibilisieren. Mit der Aufnahme in das Verzeichnis sollen außerdem der Austausch und kritische Diskurs angeregt sowie die Forschung zu den kulturellen Praktiken vorangetrieben werden.“
Die Neuaufnahmen im Auswahlverfahren 2021–23 in das Landesinventar des Immateriellen Kulturerbes in Nordrhein-Westfalen sind:
Belecker Sturmtag
Der „Belecker Sturmtag“ inszeniert die Verteidigung der Stadt Belecke in der Soester Fehde von 1448. Zum Brauch gehören Böllerschüsse, ein Festumzug und eine Feier für alle Generationen, Alteingesessene, Zugezogene und Gäste. Anliegen sind die Vermittlung eines zeitgemäßen Geschichtsbewusstseins, die Stärkung des zivilgesellschaftlichen Zusammenhalts und die Mahnung zu Frieden und Gewaltfreiheit.
Die klassische deutsche Reitlehre
Die klassische deutsche Reitlehre ist eine schonende Ausbildungsmethode von Pferden und Reiterinnen und Reitern mit mündlich und schriftlich überlieferten und bewährten Grundsätzen, eigener Fachsprache und klaren Regeln. Sie zielt auf ein harmonisches Zusammenspiel von Tier und Mensch und ein daraus entstehendes Gefühl von Natur-Faszination und Reit-Glück ab. Gewaltfreiheit gegenüber Tier und Mensch in der Ausbildung ist oberstes Gebot und Selbstverständlichkeit.
Vermittlung des wissenschaftlichen, insbesondere astronomischen Weltbilds in Planetarien
Planetarien sind Orte der Bildung, wo Wissen im Bereich der Astronomie einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht und weitergeben wird. Sie vermitteln Verständnis für die Naturphänomene am Himmel, für deren Wahrnehmung durch die Menschen im Wandel der Geschichte, für den Aufbau des Universums und den Planeten Erde. Neben Fakten transportieren sie auch Staunen, Wundern, Ehrfurcht und Faszination. Der Besuch von Planetarien kann dazu anregen, selbst aktiv zu werden, z.B. als Amateurastronomin oder Amateurastronom. Die Eintragung in das Landesinventar erfolgt als Gute-Praxis-Beispiel der Erhaltung Immateriellen Kulturerbes. Das bedeutet, dass die Tätigkeit der Planetarien als Modell für Erhaltungsmaßnahmen dienen kann.
Zirkus
Der Zirkus ist eine eigenständige Form der darstellenden Künste, in der auf außerordentlichen Fähigkeiten und Talenten basierende Darbietungen einem Publikum präsentiert werden. Als Ergebnis eines kreativen Prozesses werden Emotionen und Inhalte vermittelt. Im Zirkus können Elemente anderer Kunstbereiche wie z.B. Theater, Tanz, Musik, aber auch des Sports, der Medien und der Technik aufgegriffen werden. Kritisch reflektiert werden sollen im Zuge der Aufnahme in das Landesinventar die Geschichte des Zirkus‘ hinsichtlich kolonialer Aspekte sowie die Tier-Mensch-Beziehung. Die Einhaltung der geltenden Tierschutzgesetze ist Voraussetzung für die Bezeichnung als Immaterielles Kulturerbe.
Das Land Nordrhein-Westfalen hat darüber hinaus fünf Kulturformen für die Aufnahme in das Bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes nominiert:
• Bolzplatzkultur,
• die klassische deutsche Reitlehre,
• Steigerlied,
• Vermittlung des wissenschaftlichen, insbesondere astronomischen Weltbilds in Planetarien,
• Zirkus.
Die Bolzplatzkultur ist bereits seit 2018, das Steigerlied seit 2020 in das Landesinventar in Nordrhein-Westfalen eingetragen. Ob die nominierten Kulturformen in das Bundesweite Verzeichnis aufgenommen werden, steht nach weiterer Prüfung auf Bundesebene und abschließender Bestätigung spätestens zu Beginn des Jahres 2023 fest.
Hintergrund der Erstellung der Verzeichnisse auf Landes- und Bundesebene ist die Umsetzung des UNESCO-Übereinkommens zur Erhaltung des Immateriellen Kulturerbes, dem die Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2013 beigetreten ist. Das Landesinventar dokumentierte bislang Kulturformen mit ausgeprägtem Landesbezug. Diese Voraussetzung entfiel mit der Auswahlrunde 2021–23, sodass die Fülle von verschiedenen Kulturpraktiken im Land besser abgebildet werden kann. Das nächste Bewerbungsverfahren beginnt voraussichtlich im Frühjahr 2023.
Interessierte können sich jederzeit an die Landesstelle Immaterielles Kulturerbe NRW an der Universität Paderborn wenden (E-Mail: landesstelle@ike.upb.de, Tel.: 05251 605462), um weiterführende Informationen zu beziehen.




Das Steigerlied und die Trinkhallenkultur im Ruhrgebiet sind am 9. Juni 2021 offiziell als Immaterielles Kulturerbe in Nordrhein-Westfalen ausgezeichnet worden. Vertreterinnen und Vertreter der antragstellenden Kulturformen erhielten auf der Auszeichnungsveranstaltung im Ministerium für Kultur und Wissenschaft die Urkunde sowie ein handwerklich gefertigtes Glasobjekt. Bereits im vergangenen Jahr waren beide Ausdrucksformen in das Landesinventar für Immaterielles Kulturerbe aufgenommen worden. Neben der Auszeichnung und Anerkennung des ehrenamtlichen Engagements der antragstellenden Akteure wurde im Rahmen der Veranstaltung auch der Status quo des Immateriellen Kulturerbes in Nordrhein-Westfalen reflektiert und die bisherige Eintragungspraxis in das Landesinventar unter Berücksichtigung der Neuaufnahmen vorläufig bilanziert.
Das Landesinventar Immaterielles Kulturerbe in Nordrhein-Westfalen
In einem fortlaufenden Prozess ermittelt und dokumentiert das Land Nordrhein-Westfalen das kulturelle Erbe auf seinem Gebiet und führt dafür ein eigenes Landesinventar des Immateriellen Kulturerbes. Für eine entsprechende Eintragung können sich die Kulturträger beim Ministerium für Kultur und Wissenschaft NRW bewerben. Gesichtet werden die eingegangenen Bewerbungen zunächst von einer unabhängigen Landesjury, der die Kulturdezernentinnen der Landschaftsverbände Rheinland und Westfalen-Lippe, der Präsident der NRW-Stiftung sowie berufene Mitglieder aus den Bereichen Handwerk, Museum und Universität angehören. Die Evaluation der Landesjury dient dem Ministerium dann als Empfehlung, auf deren Grundlage über die Eintragungen entschieden wird. Neuaufnahmen in dieses Verzeichnis finden ebenso wie eine offizielle Auszeichnungsveranstaltung alle zwei Jahre statt. Letztere konnte dank sinkender Inzidenzwerte in diesem Jahr erfreulicherweise in Präsenz durchgeführt werden, auch wenn die Teilnehmerzahl entsprechend den Abstandsreglungen begrenzt war.
Begrüßung und Programm
Das Land wurde bei der diesjährigen Auszeichnungsveranstaltung durch den Parlamentarischen Staatssekretär Klaus Kaiser aus dem Ministerium für Kultur und Wissenschaft vertreten. Er nahm dabei die Würdigung, Urkundenübergabe und Auszeichnung der Trägergruppen des Steigerlieds und der Trinkhallenkultur im Ruhrgebiet vor. Die Veranstaltung wurde von Claudia Determann, Referatsleiterin für Föderale Kulturpolitik, Bundesrecht und UNESCO-Angelegenheiten im Ministerium für Kultur und Wissenschaft, eröffnet. Es folgte eine Ansprache von Professorin Eva-Maria Seng, Sprecherin der Landesjury und Leiterin der Landesstelle Immaterielles Kulturerbe NRW. Nach der Würdigung und Urkundenübergabe äußerten sich die Trägergruppen in kurzen Statements zu dem Bewerbungsverfahren, der Auszeichnung und ihren weiterführenden Überlegungen und Zielen auf nationaler und internationaler Ebene.
Status quo des Immateriellen Kulturerbes und Einordnung der Neuaufnahmen in das Landesinventar
Mit der reflexiven Frage „Wo stehen wir beim Immateriellen Kulturerbe?“ eröffnete Professorin Seng ihre Ansprache. Zunächst verortete sie die Eintragungspraxis in das nordrhein-westfälische Landesinventar als einen wichtigen föderalen Beitrag im Rahmen der UNESCO-Konvention zum Erhalt des Immateriellen Kulturerbes. Das Ziel der 2003 verabschiedeten und von mittlerweile 180 Vertragsstaaten ratifizierten Konvention sei die Förderung der Sichtbarkeit und des Bewusstseins der kulturellen Vielfalt auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene. Nachdem Deutschland der Konvention 2013 beigetreten ist, finden auch hier Eintragungen auf Landes-, Bundes- und internationaler Ebene statt.
Neben den von der UNESCO geführten internationalen Listen mit mittlerweile 584 Einträgen, wird auf nationaler Ebene seitens der Bundesrepublik das Bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes mit derzeit 126 Eintragungen geführt. Auf föderaler Ebene wiederum dokumentieren einige (nicht alle) Bundesländer entsprechende Kulturformen in Landeslisten. Das nordrhein-westfälische Landesinventar umfasst aktuell zwölf Eintragungen, wobei besonders zu betonen ist, dass aus allen Bereichen der Konvention (Bräuche, Handwerkstechniken, darstellende Künste, mündlich überlieferte Traditionen) sowie aus allen Landesteilen entsprechende Kulturformen vertreten sind.
Zu einer ausgeglichenen Liste kultureller Phänomene in Nordrhein-Westfalen tragen auch die neuesten Eintragungen – das Steigerlied und die Trinkhallenkultur im Ruhrgebiet – als urbane Kulturformen bei. Die bewusstere Wahrnehmung von Großstadtphänomenen ist dem Kulturministerium ein wichtiges und langfristiges Anliegen. Vor diesem Hintergrund wurde bereits 2019 die Tagung „StadtGemeinsamkeiten. Immaterielles Kulturerbe im urbanen Raum“ ins Leben gerufen (vgl. Tagungsbericht https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-8598).
Glasobjekte als sichtbares Zeichen der Anerkennung
Bevor es zur offiziellen Urkundenübergabe kam, wurden seitens des Ministeriums und der Landesstelle zwei Glasobjekte sowie ein Film vorgestellt, der deren Fertigung zeigt. Die amorphen Glasgebilde mit farbigem Einschluss, der auf das Logo des Landesinventars Bezug nimmt, wurden erstmals verliehen und sind eigens von Glasmachern entworfen und handgefertigt worden. Die Besonderheit der Objekte besteht darin, dass die „Manuelle Fertigung von mundgeblasenem Hohl- und Flachglas“ selbst als Immaterielles Kulturerbe im Bundesweiten Verzeichnis eingetragen ist, wodurch die neuen Aufnahmen in NRW durch ein von anderen Kulturerbeträgern hergestelltes Werk geehrt werden. Dadurch wird symbolisiert, dass beim Immateriellen Kulturerbe ganz unterschiedliche Kategorien von Kultur gleichwertig nebeneinanderstehen.
Auszeichnung des Steigerlieds
Nach der allgemeinen Reflexion zum Status quo des Immateriellen Kulturerbes in Nordrhein-Westfalen wurden die beiden Neueintragungen gewürdigt. Unter den mehr als 1.000 Bergmannsliedern, die im Laufe der deutschen Bergbaugeschichte entstanden sind, habe das Steigerlied eine Sonderstellung inne, konstatierte der Parlamentarische Staatssekretär Klaus Kaiser. Es sei die „Hymne und das bekannteste Lied des Bergbaus“ und habe dort, aber auch in anderen Milieus, eine große und bis heute anhaltende Popularität erlangt. Im Steigerlied drückten sich das Standesbewusstsein der Bergleute und die Bergmannsehre aus. Bis heute entfalte es seine identitätsstiftende Wirkung über den Kontext des Bergbaues hinaus in Nordrhein-Westfalen.
Bei der Übergabe der Urkunde und des Glasobjekts an die beiden Vertreter des antragstellenden Vereins Ruhrkohle Musik wies der Parlamentarische Staatssekretär Kaiser darauf hin, dass das Steigerleid, welches er als Schüler gelernt habe, „als Nationalhymne des Bergbaus“ zu verstehen sei, die aber nicht nur für das Ruhrgebiet, sondern darüber hinaus auch für andere Bergbaugebiete prägend sei. Damit war auch das Erzgebirge gemeint, welches als Entstehungsort des Steigerlieds gilt. Entscheidend für die Eintragung in die Landesliste ist aber nicht die lokale Verortung des Ursprunggebietes, sondern der Sitz der antragsstellenden Organisation (Anmerkung des Autors). Das Steigerlied, so Kaiser weiter, stifte Zusammenhalt und werde auch in 100 Jahren noch einen besonderen Stellenwert im Ruhrgebiet einnehmen.
Nach der offiziellen Urkundenübergabe bedankte sich Vorstandsmitglied Andreas Artmann im Namen des Ruhrkohle Musik e.V. für die Auszeichnung und Unterstützung im Laufe des Bewerbungsverfahren. Die Eintragung in das Landesinventar sei eine „große Freude und Ehre zugleich“ und ein besonderes Zeugnis der Wertschätzung der bergmännischen Leistungen und ihrer Kultur. Das Anliegen des Ruhrkohle-Chores bestehe darin, die Bedeutung des Liedes und der darin zum Ausdruck kommenden bergmännischen Tradition auch künftigen Generationen vertraut zu machen. Vor diesem Hintergrund sei die heutige Auszeichnung auf Landesebene als Etappe und Ermutigung zu verstehen, denn ein entsprechender Antrag zur Aufnahme in das Bundesweite Verzeichnis solle noch in diesem Jahr gestellt werden. Diesbezüglich seien bereits Gespräche mit anderen nationalen und internationalen Akteuren und Chören geführt worden, um eine gemeinsame Bewerbung voranzutreiben. Der Austausch mit den verschiedenen Akteuren und Landesverbänden zeige auf, „dass die bergmännische Liedtradition, die Identifikation und das Engagement für diese in ganz Deutschland mit Hand und Herz gelebt und in die Zukunft getragen wird“, so Artmann. Da auch in vielen anderen europäischen Ländern die bergmännische Kultur gepflegt werde, sehe man auch die Chance, „dass eine mögliche Eintragung in das Bundesweite Verzeichnis eine Etappe auf dem Weg zur Anerkennung der Bergmannslieder als europäisches Kulturgut darstellt.“
Auszeichnung der Trinkhallenkultur im Ruhrgebiet
Nach dieser folgte die offizielle Auszeichnung der Trinkhallenkultur im Ruhrgebiet. Trinkhallen seien Orte mit wichtiger sozialer Funktion, die einen Treffpunkt der Nachbarschaft und darüber hinaus einen Ort der Integration und des Austausches darstellen würden, machte der Parlamentarische Staatssekretär Kaiser bei der Urkundenübergabe und Verleihung des Glasobjekts deutlich. Ein besonderer Bezug zu Nordrhein-Westfalen sei unzweifelhaft gegeben, da kaum ein Ort seine Region so gut in seiner sozialen Struktur beschreibe, wie die Trinkhalle das Ruhrgebiet. Die Trinkhalle zeichne sich durch ihr typisches Sortiment und ihre Offenheit als Kontaktbörse aus. Sie sei ein „Kristallisationspunkt“ und Forum, um sich beispielsweise über Sport, den Wohnungsmarkt oder Politik auszutauschen. Auch aus historischer Sicht habe die Trinkhalle vielschichtig ihre Region und das Zeitalter der Industrialisierung geprägt. Der amerikanische Stadtsoziologe Ray Oldenburg spreche bei der Analyse ähnlicher Typologien von sogenannten „Dritten Orten“ neben dem zu Hause (erster Ort) und dem Arbeitsplatz (zweiter Ort).
Die Auszeichnung nahm stellvertretend Marie Enders entgegen, die sich für die Bewerbung verantwortlich zeigte und als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Städtebau an der RWTH Aachen die sozialen Funktionen der Trinkhallen als „Dritter Ort“ untersucht. Bereits in ihrer Masterarbeit hatte sie sich mit den Trinkhallen auseinandergesetzt und arbeitete vor dem Hintergrund ihrer soziokulturellen Bedeutung für das Ruhrgebiet die Bewerbung zur Aufnahme in das Landesinventar aus. Ihr Anliegen bestehe darin, das Logo des Landesinventars und die Auszeichnung an die Akteure und Träger der Trinkhallen zurückzuführen. Derzeit werde eine Inventarisierung der Trinkhallen im Ruhrgebiet durchgeführt, auf deren Grundlage ein Trägerschaftsmodell entwickelt werden könne. So gesehen sei die heutige Auszeichnung nur ein „Trittstein auf einem weiteren Weg“, so Enders.
Austausch und Ausblick
Im Anschluss an das Programm zeigten sich im gemeinsamen Gespräch Überschneidungen und Wechselwirkungen der beiden ausgezeichneten Kulturformen. So wies Andreas Artmann vom Ruhrkohle Musik e.V. darauf hin, dass es durchaus passend sei, dass die Trinkhallenkultur im Ruhrgebiet und das Steigerlied „hier und heute gemeinsam ausgezeichnet werden“. Denn die dritte Schicht des Bergmanns sei traditionell „anner Bude“ gewesen, ehe es zum Feierabend nach Hause ging. Allein an diesem kleinen Beispiel wird deutlich, dass eine solche Auszeichnungsveranstaltung nicht nur der Anerkennung der Kulturformen dient, sondern darüber hinaus Austausch- und Vernetzungsmöglichkeiten schafft, die verschiedene Trägergruppen und kulturelle Phänomene zusammenführt und für diese neue Verknüpfungspunkte schaffen und Reflexionsprozesse anregen kann.
Für die nächste Runde des Auswahlverfahrens können sich Kulturträger noch bis zum 30. November 2021 beim Ministerium für Kultur und Wissenschaft bewerben. Unterstützung beim Bewerbungsprozess leistet die Landestelle Immaterielles Kulturerbe NRW, die am Lehrstuhl für Materielles und Immaterielles Kulturerbe der Universität Paderborn angesiedelt ist.
Landesinventar Immaterielles Kulturerbe NRW
https://www.mkw.nrw/kultur/arbeitsfelder/immaterielles-kulturerbe
Landesstelle Immaterielles Kulturerbe NRW, Universität Paderborn
https://kw.uni-paderborn.de/historisches-institut/kulturerbe/landesstelle-immaterielles-kulturerbe-nrw/


Vertreterinnen und Vertreter von Steigerlied und Trinkhallenkultur im Ruhrgebiet haben am 9. Juni 2021 im Ministerium für Kultur und Wissenschaft die Urkunde zur Eintragung in das Landesinventar des Immateriellen Kulturerbes erhalten. Für die Auszeichnung haben Glasmacher eigens ein Glasobjekt entworfen und manuell gefertigt. Ein Film mit dem Titel „Ein Glasobjekt entsteht … Immaterielles Kulturerbe in NRW“, der den Herstellungsprozess eindrucksvoll festhält, ist ab sofort hier abzurufen.
Das Land Nordrhein-Westfalen führt ein eigenes Landesinventar des Immateriellen Kulturerbes. Neuaufnahmen in dieses Verzeichnis finden alle zwei Jahre statt. Das Steigerlied und die Trinkhallenkultur im Ruhrgebiet sind seit 2020 als immaterielles, kulturelles Erbe auf Landesebene anerkannt. Jetzt fand im Ministerium für Kultur und Wissenschaft der Festakt anlässlich der Aufnahme statt. Klaus Kaiser, Parlamentarischer Staatssekretär im Kulturministerium, überreichte den Vertreterinnen und Vertretern der Kulturformen die Urkunde zur Eintragung.
„Trinkhallen mit bewährtem Sortiment bilden für ihre Stammkundschaft eine Plattform für den Austausch und die Integration insbesondere in urbanen Milieus“, sagt Prof. Dr. Eva-Maria Seng als Sprecherin der Landesjury. „Auch das Singen des Steigerliedes entfaltet in Nordrhein-Westfalen eine hohe identitätsstiftende Wirkung über den engeren Kontext des Bergbaus hinaus.“
Der Parlamentarische Staatssekretär Kaiser händigte den Kulturerbeträger mit den Urkunden ein Glasobjekt aus, das Glasmacher der Glashütte Gernheim eigens hierfür entworfen und heiß am Ofen hergestellt haben. Dieses repräsentiert das enorme Wissen und Können der manuellen Glasfertigung und damit eines Handwerks, das in Nordrhein-Westfalen aktiv praktiziert, weitergegeben und entwickelt wird. Gleichzeitig symbolisiert das Objekt, dass beim Immateriellen Kulturerbe ganz unterschiedliche Bereiche von Kultur gleichwertig nebeneinanderstehen: hier mündliche Ausdrucksweisen, gesellschaftliche Bräuche und Rituale sowie traditionelle Handwerkstechniken.
Das Buchbinderhandwerk, die Demoszene und das Papiertheater gehören zu den insgesamt 20 Neuaufnahmen in das Bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes. Sie zeigen die Vielseitigkeit lebendiger Traditionen, die durch die Weitergabe und -entwicklung von Wissen und Können eine wichtige kulturelle Ressource darstellen.
Aus dem Bewerbungsverfahren 2019–2021 haben deutschlandweit 18 Kulturformen und zwei Modellprogramme zur Erhaltung Immateriellen Kulturerbes die Aufnahme in das Bundesweite Verzeichnis geschafft. Auf Empfehlung der sachkundigen, unabhängigen Landesjury für das Immaterielle Kulturerbe hat Nordrhein-Westfalen erfolgreich das Buchbinderhandwerk, die Demoszene und das Papiertheater nominiert. Grundlage der Entscheidung bildeten die Bewerbungsunterlagen, welche die Trägergruppen in ihrem Bundesland eingereicht haben. Buchbinderhandwerk, Demoszene und Papiertheater werden dabei nicht nur in Nordrhein-Westfalen, sondern auch länder- und staatenübergreifend ausgeübt. Sie fanden im mehrstufigen nationalen Auswahlverfahren auf allen Ebenen Zustimmung zur Anerkennung als kulturelles Erbe.
Die Aufnahme in das Bundesweite Verzeichnis soll zu mehr öffentlicher Bekanntheit, Aufmerksamkeit und Wertschätzung beitragen. Dadurch soll Risiken für die Weitergabe und das Fortbestehen der Kulturformen begegnet werden, zu denen z.B. rückläufige Aufträge in der Buchbinderei, der Verlust der ursprünglichen digitalen und analogen Trägermedien in der Demoszene oder das vergleichsweise hohe Durchschnittsalter der Spielerinnen und Spieler beim Papiertheater zählen können. Außerdem sind die Auswirkungen der Corona-Pandemie mit zu bedenken. Für die Gesellschaft stellen die gewachsenen und tradierten Kulturformen einen Speicher von Wissen und Fertigkeiten dar, der die Basis für Innovationen bildet. Immaterielles Kulturerbe wirkt gemeinschafts-, identitäts- und sinnstiftend und regt Reflexionsprozesse über die Verständigung und den Zusammenhalt zwischen den Menschen an.
Als positiv für die Ausgewogenheit des Bundesweiten Verzeichnisses ist hervorzuheben, dass die drei nordrhein-westfälischen Vorschläge einerseits dem bislang nicht genügend repräsentierten urbanen Raum zuzuordnen sind, andererseits mit der anteiligen Verortung der Demoszene im Digitalen eine neue Raumkategorie beim Immateriellen Kulturerbe zutage tritt. Ein Beispiel einer noch nicht geschlossenen Leerstelle sind migrantische Traditionen, die in Deutschland vielerorts praktiziert werden. Eine breite, vielfältige und kreative Teilnahme am Bewerbungsverfahren 2021 vom 1. April bis 30. November 2021 ist deshalb sehr zu wünschen.
Weitere Informationen, Beratung und Unterstützung bietet die Landesstelle Immaterielles Kulturerbe NRW an der Universität Paderborn allen Interessierten und Bewerbenden kostenfrei an. Eine öffentliche Informationsveranstaltung mit Beteiligung der Deutschen UNESCO-Kommission e.V. findet am 10. Mai 2021 als Online-Videokonferenz statt. Kontakt und Anmeldung unter: landesstelle@ike.upb.de. Siehe auch: www.kulturerbe-forschung.de.


