„Pop­kul­tur ist oh­ne Pein­lich­keit nicht denk­bar“ - Kul­tur- und Mu­si­k­jour­na­list Jens Ba­l­zer zu Gast in den Stu­dien­gän­gen Po­pu­lä­re Mu­sik und Me­di­en.

„Popkultur ist ohne Peinlichkeit nicht denkbar“. Mit dieser pointierten Aussage eröffnet Jens Balzer, Kultur- und Musikjournalist (ZEIT, Deutschlandfunk, Rolling Stone etc.) seinen Talk „Vokuhila, Schulterpolster, Arschgeweih, gespritzte Lippen: Pop- und Gesellschaftsgeschichte im Spiegel schlimmer Geschmacksverirrungen“, der am 20. Juni im Rahmen des Seminars „Identitätsspiele der Uncoolness und des Cringe – Trash-, Müll-, Schuttkulturen“ von Prof. Dr. Christoph Jacke stattfand. In den darauffolgenden 60 Minuten wurde von Balzer gefühlt alles thematisiert, was im Rückblick der Popkultur auf der Oberfläche cringe erscheint, doch wenn man einen differenzierteren Blick wagt, lassen sich Details der Gesellschaftsgeschichte erkennen. So ist zum Beispiel der Vokuhila nach Balzer nicht nur ein trashiges, modisches Relikt der 1970er Jahre, das seit geraumer Zeit wiederentdeckt wurde, sondern eine aus drei Frisuren zusammengesetzte „Schizofrisur“, die perfekt von „ambivalenten Persönlichkeiten“ wie David Bowie, Rod Stewart oder Paul McCartney getragen und inhaltlich aufgeladen werden können. Über das Ablesen von Macht- und Geschlechterverhandlungen bzw. -konstruktionen bei den in den 1980er Jahren beliebten Schulterpolstern (Annie Lennox, Thomas Anders, Grace Jones, Milli Vanilli) führten Balzers kritische und durchweg humorvolle Beobachtungen bis hin zu Pamela Andersons, Katie Price‘ oder auch Pete Burns‘ (Dead Or Alive) operierten Körpern, der gesellschaftlichen Normalisierung von Silikon, Botox und generell plastischer Chirurgie Ende der 1990er und Anfang der 2000er Jahre. Nach einem Blick auf heutige Stars wie Katja Krasavice oder Shirin David wurde im Anschluss an Balzers Vortrag mit den Moderierenden Nike Lerche und Prof. Dr. Christoph Jacke sowie Studierenden und Gäst*innen über den verbreiteten Begriff „Schönheits-OP“, das feministische Potential von Body Modifications, die Rückkehr der Körperbehaarung und die gescheiterte Re-Aneignung der Schulterpolster angeregt und reichhaltig diskutiert. Letztlich gab Balzer dem Auditorium sogar seine zentrale Frage mit auf den Weg: Nach den Möglichkeiten und Grenzen von Kunstfreiheit, -kritik, Körper und Pop.

Für weitere scharfe und gesellschaftsgeschichtliche Beobachtungen lohnt sich ein Blick in Balzers zahlreiche Bücher, z.B. „Das entfesselte Jahrzehnt. Sound und Geist der 70er“ (2019), „High Energy. Die Achtziger – das pulsierende Jahrzehnt“ (2021), „No Limit. Die Neunziger – das Jahrzehnt der Freiheit“ (2023) sowie den Essay „Ethik der Appropriation“ (2022), aus denen er auch einige Abschnitte für den Talk übernommen hat. Im August 2024 erscheint sein neues Buch „After Woke“.

Balzer ist seit Jahren regelmäßig an der UPB zu Gast, u.a. als Angehöriger des „C:POP – Transdisciplinary Research Center for Popular Music Cultures and Creative Economies“, im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Druckwellen: Fühlen & Denken“ 2019 und als Lehrbeauftragter in den Studiengängen „Populäre Musik und Medien“ am Fach Musik u.a. zu Musikjournalismus und queeren Popmusikkulturen.

 

Text und Fotos: Joshua Wick

vlnr.: Prof. Dr. Christoph Jacke, Nike Lerche, Jens Balzer
vlnr.: Nike Lerche, Jens Balzer, Prof. Dr. Christoph Jacke