Im Gastvortrag „Overload vs. Overlord – Achtsamkeit zwischen Alltagsbewältigung und Herrschaftslegitimation“ beleuchtete Laura Schwinger am 26.11.2024 in der Ringvorlesung Ver:achtsamkeit die wachsende Bedeutung von Achtsamkeit in unserem Alltag. Mit Blick auf die „Verachtsamung des Alltags“ und die Paradoxien des Achtsamkeitsmarkts erklärte sie:
„Der Achtsamkeitsmarkt weist viele Paradoxien auf. Etwa zielen Achtsamkeitspraktiken oftmals stark auf individuelles Verhalten und eine Distanz zum Weltgeschehen ab. Gleichzeitig gibt es aber auch den Anspruch, dass die Welt sich durch Achtsamkeit „heilen“ ließe. Durch scheinbare Widersprüche wie diesen spricht Achtsamkeit eine große Zahl an Zielgruppen an. Dazu zählen insbesondere Menschen mit Mittelstandshintergrund, die einen sozialen Abstieg befürchten oder vielleicht bereits erfahren haben. Ebenso ist sie für Menschen interessant, die vor allem ihre Arbeitsleistung optimieren möchten. Viele identifizieren sich dabei sehr stark mit ihrem Job und sehen in ihm sowohl ein Mittel Selbstverwirklichung als auch einen Beitrag zum Fortschritt der Menschheit. Dafür nehmen sie auch Arbeitsbedingungen in Kauf, die mit Deregulierung und Entgrenzung einhergehen, d.h. mit Unsicherheiten und weniger Trennung zwischen Beruf und Privatleben. Natürlich soll und kann Achtsamkeit gegen Stress helfen, doch ich sehe in ihr auch das Potenzial, dass ihre große Popularität Entwicklungen verschleiert, die zu mehr sozialer Ungleichheit führen.“
Laura Schwinger studierte Kulturanthropologie und Musikwissenschaft in Mainz und ist seit 2017 Mitherausgeberin der testcard, einer Anthologie zur Geschichte und Gegenwart der Popkultur. Neben ihrer Tätigkeit als DJ und Veranstalterin beschäftigt sie sich wissenschaftlich und publizistisch mit Musik und Weltraum, Feminismus sowie neoliberalen Kontrollmechanismen. In der aktuellen testcard schrieb sie über Achtsamkeit, Minimalismus und Refeudalisierung.
Text: Tina Götz