Forschungsprojekte zur historischen Phraseologie

Hier erhalten Sie zum einen Hinweise auf das anvisierte Projekt „Pragmatische Phraseme diachron“, das zusammen mit Claudia Wich Reif (Universität Bonn) verfolgt und in einer kurzen Skizze dargestellt wird. Zum anderen erhalten Sie Einblick in das Forschungsprojekt „Idiomatische Prägungen im Zeitungskommentar (1949-2009): Bestandsaufnahme, Genese, Textsortenspezifik“, bei dem Datenerhebung und Auswertung schon erfolgt sind. Die Informationen beziehen sich auf die Korpuszusammenstellung, das Erkenntnisinteresse und die (ersten) Ergebnisse.

Pragmatische Phraseme diachron

Wie geht’s Dir?, Herzlichen Glückwunsch!, Gute Nacht!, aber auch nur Nur Mut! oder Was soll das denn heißen? sind nur wenige Beispiele für Routineformeln, mit denen wir unseren kommunikativen Alltag gestalten. Das Projekt stellt sich die Frage, woher diese Formeln kommen. In der Regel sind sie eben nicht nur Ausweis für aktuelle mündliche Routinen und aktuelle Sprachgebrauchsmuster, sondern haben eine Geschichte, die weit über den aktuellen Sprachgebrauch hinausweist und sich häufiger bis in das frühe Mittelhochdeutsche zurückverfolgen lässt. Anhand ausgewählter Fallstudien, die korpusbasiert erfolgen, soll typische Gebrauchsgeschichten dokumentiert werden. Interessanterweise lassen sie sich häufig als Rudimente von räsonierenden Texten erfassen.

Korpuszusammenstellung

Das Korpus für das Projekt „Idiomatische Prägungen im Zeitungskommentar (1949-2009)“ setzt sich aus Teilkorpora zusammen, von denen vier von Prof. Dr. em. H. Ramge (Justus-Liebig-Universität Gießen) erstellt worden sind. Diese vier Teilkorpora setzen sich aus den Kommentaren aus überregionalen (Frankfurter Rundschau, Frankfurter Allgemeine Zeitung) und zwei regionalen Zeitungen (Gießener Anzeiger und Weilburger Tageblatt) zusammen und sind thematisch geordnet: Das erste Teilkorpus setzt sich aus Kommentaren zum 17. Juni zusammen, das zweite Teilkorpus setzt sich aus Kommentaren zur Konstitution der Grünen und ihrer ersten Regierungsbeteiligung in Hessen, das dritte Teilkorpus enthält Kommentare zu den Unglücken in Harrisburg und Tschernobyl und das vierte Teilkorpus Kommentare zu Regierungserklärungen.

Während sich die Teilkorpora 1 und 4 auf wiederkehrende Kommentaranlässe beziehen, sind besondere Ereignisse oder Ereignisfolgen Gegenstand der anderen zwei Teilkorpora. Bei diesen Korpora wurde nicht selektiv vorgegangen, d.h. es wurden alle, in den genannten Zeitungen geschriebenen Kommentare in das Korpus aufgenommen. In vielen Fällen wurden auch die zu einem Ereignis geschriebenen Berichte in das jeweilige Korpus aufgenommen. Derzeit werden zwei weitere Korpora erstellt: der erste umfasst Kommentare zum 3. Oktober, der zweite erfasst Kommentare zum Aufstieg der Links-Partei und zu den Diskussionen um ihre Regierungsbeteiligung im Bund und einigen Bundesländern. Ein Großteil der Kommentare liegt in digitalisierter Form vor.

Erkenntnisinteresse

Das Projekt „Idiomatische Prägungen im Zeitungskommentar (1949-2009)“ will den Bestand von idiomatischen Prägungen dokumentieren und die Entwicklung und Verfestigung von idiomatischen Prägungen aufdecken. Die Erfassung und Klassifikation der Prägungen lehnt sich an die Darstellung von Helmuth Feilke (1996) an, will diese jedoch auch ergänzen. Dieses Modell stellt eine Alternative zu der in der Phraseologieforschung zumeist gebrauchten Klassifikation von Harald Burger dar (zuletzt 2010) dar.

Das Projekt verfolgt allerdings nicht nur das Ziel, den Bestand und Entwicklung idiomatischer Prägungen zu erfassen, sondern möchte auch einen Beitrag zur Textsortenbeschreibung des Kommentars leisten. Überblickt man die unterschiedlichen Veröffentlichungen zum Kommentar – sei es auch medien/textlinguistischer, medienwissenschaftlicher oder publizistischer Tradition – , so wird deutlich, dass für den Kommentar kein bestimmtes Textmuster anzunehmen ist, sondern dass mehrere Spielarten des Kommentierens (vgl. nach etwa Nowak/Schalkowski 1998 Standpunktkommentar, der diskursive Kommentar und der dialektische Kommentar) miteinander konkurrieren. So konnte bspw. nicht plausibilisiert werden, dass Kommentare immer auf eine abschließende Evaluation zulaufen (kritisch zu dieser Annahme etwa Ramge 1994) oder, wie Brinker (20107) behauptet, notwendig eine appellative Funktion haben. Es sind also unterschiedliche „Spielarten des Kommunizierens“ anzunehmen. Trotz der somit nachgewiesenen Heterogenität des Kommentierens gibt es jedoch ein Repertoire an Formulierungen und syntaktischen Mustern, die auch bei journalistischen Laienkommentaren gebraucht werden und offensichtlich Identifikation, Rezeption und Produktion von Kommentaren steuern.

Im Projekt wird auf Basis einer vollständigen Klassifikation der Prägungen, die von syntaktischen Modellen über semantische bis hin zu pragmatischen Prägungen reichen, versucht, jene textuelle Prägungen zu bestimmen, die zum einen untrennbar mit Zeitungstextsorte „Kommentar“ verbunden sind oder zum anderen in ihr häufig auftauchen. Damit geht die Untersuchung des Projekts noch einen Schritt weiter als Untersuchungen, die sich der Funktion von Phrasemen in unterschiedlichen Pressetextsorten widmen. Der Blick richtet sich dort zumeist auf bestimmte Gruppen, so vollidiomatische verbale Phraseme (figurative semantische Prägungen), die besonders im Hinblick auf eher stilistische Funktionen wie die Steigerung der Anschaulichkeit und Attraktivität eines Textes oder in Hinblick auf die thematische Textkonstitution thematisiert werden (vgl. für einen Forschungsüberblick Skog-Södersved 2006), wobei dann aber etwa auch der Anteil von figurativen Phrasemen an der politischen Lexik opak bleibt. Die basale textkonstitutive Funktion von Prägungen, ihre Bindung an zentrale kommunikative Aufgaben des Kommentierens, wird ebenso wenig thematisiert wie der häufige sprachspielerische Einsatz von pragmatischen Phrasemen (Routineformeln).

Das Projekt folgt einem textlinguistischen Zugang, nach dem Texte als Lösungen für rekurrente kommunikative Probleme betrachtet wird. Dieser Zugang zum Phänomen „Text“ wird ebenso in der Ethnomethodologie/Wissenssoziologie – so in Luckmanns Konzept der kommunikativen Gattungen (Luckmann 1986) –, in der linguistischen Kommunikationsanalyse (etwa Gloning 2006), in der pragmatischen Textstilistik von Sandig (20062) oder auch in der Schreibforschung vertreten. Im Anschluss an Ramge (1994) und an Ramge/Schuster (2001) wird mit einer Vorstellung von Kommentar gearbeitet, nach der ein Kommentar zwei grundlegende Aufgaben abarbeiten muss: Das Thematisieren und Reflektieren, wobei in beide Bestandteile Bewertungshandlungen einfließen. Damit erschöpft sich das Kommentieren jedoch nicht.

Aus der Positionierung des Kommentars im Mediendiskurs ergeben sich weitere kommunikative Aufgaben, die, wie sich nach der Analyse von ca. 100 Kommentaren schon zeigt, häufig mit dem Gebrauch rekurrenter idiomatischer Prägungen verbunden: So muss der Kommentator nicht nur in jedem Kommentar sein Expertentum unter Beweis stellen und ein Image aufbauen (Distinktionsfunktion nach Ramge/Schuster 2001), sondern er muss auch der Erwartung genügen, die Komplexität gesellschaftlicher Ereignisse zu reduzieren (Orientierungsfunktion nach Ramge/Schuster 2001). Die Tatsache, dass Kommentare zu den meinungsbetonten Textsorten gezählt werden, darf nicht zu der Annahme führen, dass sie sich im subjektiven Werturteil erschöpften, vielmehr dienen sie der Meinungsbildung, die aber zur Voraussetzung hat, dass Sachverhalte verständlich dargestellt werden und ihre Akzeptanz u.a. durch Imagebildung und/oder der Rekurs auf unterschiedliche gesellschaftliche Akteure gestützt wird.

(Erste) Ergebnisse

Neben der quantitativen Auswertung des Materials, die einerseits über die Verteilung der unterschiedlichen Prägungen Ausschluss gibt, andererseits besonders häufig gebrauchte Prägungen zeigt, erfolgt eine Auseinandersetzungen mit der Rolle der idiomatischen Prägungen bei der Textkonstitution. Die quantitative Auswertung soll auch Ausschluss über die Genese einzelner Prägungen geben.

Gemäß der Auffassung, dass der Textproduzent bei dem Schreiben eines Kommentars unterschiedliche Aufgaben zu erbringen habe, lässt sich der Gebrauch der Prägungen relativ zu diesen Aufgaben bestimmen:

Thematisieren

Zum Thematisieren (Generalisieren) werden erstens lexikalische Satzbeziehungsmuster, die eine Schnittmenge mit typischen Topik-Prägungen (so Sprichwörtern) besitzen, zweitens auf institutionalisierte Routinen verweisende Regie- und rhetorische Fragen (z.T. mit standardisierten Muster) gebraucht. Sprichwörter, Gemeinplätze und ähnliches werden dazu nach den bisherigen Auswertungen nicht gebraucht. Als besonders wichtiges syntaktisches Modell hat sich bisher die Wer-der-Konstruktion erwiesen.

Reflektieren

Dem Reflektieren dienen, soweit es sich um Texte handelt, die argumentative Grundstrukturen erkennen lassen, a) pragmatische (textuelle) Prägungen, die zur Strukturierung der Argumentation benutzt werden (etwa ers­tens, zweitens, drittens) und b) semantische Prägungen, die zur Darstellung argumentativer Auseinandersetzungen ge­braucht werden (etwa ein Wörtchen mitreden). Die in die argumentativen Prozesse oft eingelagerten Perspektivierungen führen häufig zu syntaktischen Modellen (was X betrifft) und pragmatischen (textuellen) Prägungen (so gesehen, nach dem Motto), die an einen Sachverhalt anknüpfen oder ihn fortführen. Ferner sind pragmatische (textuelle) Prägungen(heißt nichts anderes als) zur Einleitung eigener Interpretationen bzw. Sprachhandlungen, syntaktische Ausdrucksmodelle (v. a. Satzbeziehungsmuster), die eine Gewichtung von nachfolgen­den Sachverhalten ermöglichen (es sei denn, wie auch immer), syntaktische Modelle, die textuelle inhaltsbezogene Routinen zum Ausdruck bringen (ob-Termsätze) und syntaktische Modelle, die durch ihre Beteiligung am Generalisieren für das Schlussfolgern ge­braucht werden, wichtig.

Imagepflege (Distinktionsfunktion) und Verständnissicherung (Orientierungsfunktion)

Die unter „Reflektieren“ genannten Phänomene betreffen zu einem guten Teil auch die Distinktionsfunktion, auffällig sind darüber hinaus semantische und pragmatische Prägungen mit Zitatcharakter, die den Bildungshorizont des Verfassers andeuten („point of no return“). Der Verständnissicherung und häufig auch der Attraktivität sind vornehmlich semantische und pragmatische Prägungen dienen, die andere Kommunikationsdomänen kon­textualisieren (der lange Marsch, ruck, zuck). Das Spiel mit unterschiedlichen semantischen und pragmatischen Prägungen kann auch zu Textmustermischungen führen. Zur Attraktivität tragen auch bei: a)  pragmatische Prägungen, die mündliche Routinen inszenieren, jedoch mit Ironisieren und Übertreiben verbunden sind (na denn; herzlichen Glückwunsch etc.), b) die Verwendung pragmati­scher Routinen gemäß typischer Sequenzpositionen (Wie soll das gehen? Was soll das?), c) syntaktische Modellbildungen für Sprachhandlungen mit einem emotionalisierenden Charakter (W-Exclamative wie Wie gut!) und semantische Prägungen (die Nase voll haben), die zu einer Fluktuation von Stil­ebenen führen.

Literatur (Auswahl)

Brinker, Klaus (20107): Linguistische Textanalyse. Eine Einführung in Grundbegriffe und Methoden. Berlin.

Bucher, Hans-Jürgen (1986): Pressekommunikation. Grundstrukturen einer öffentlichen Form der Kommunikation aus linguistischer Sicht. Tübingen.

Burger, Harald (20053): Mediensprache. Eine Einführung in Sprache und Kommunikationsformen der Massenmedien. Berlin.

Burger, Harald (20104): Phraseologie. Eine Einführung am Beispiel des Deutschen. Berlin.

Feilke, Helmuth (1994): Common-sense-Kompetenz. Überlegungen zu einer Theorie des ‘sympa­thischen’ und ‘natürlichen’ Meinens und Verstehens. Frankfurt a. M.

Feilke, Helmuth (1996): Sprache als soziale Gestalt: Ausdruck, Prägung und die Ordnung der sprachlichen Typik. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Feilke, Helmuth (2003): Kontext–Zeichen–Kompetenz. Wortverbindungen unter sprachtheoreti­schem Aspekt. In: Steyer, Kathrin (Hrsg.): Wortverbindungen – mehr oder weniger fest (In­stitut für Deutsche Sprache – Jahrbuch 2003). Berlin, New York.

Fleischer, Wolfgang (19972): Phraseologie der deutschen Gegenwartssprache. Tübingen.

Gloning, Thomas (2008): "Man schlürft Schauspielkunst..." Spielarten der Theaterkritik In: Leonhard, Joachim-Felix (Hg.): Literatur als Lust. Begegnungen zwischen Poesie und Wissenschaft. Festschrift für Th. Anz zum 60. Geburtstag. München, S. 59-86.

Friedrich, Jesko (2006): Historische Phraseologie des Deutschen. In: Harald Burger u. a. (Hrsg.): Phraseologie – ein internationals Handbuch zeitgenössischer Forschung (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 28, Bd. 2). Berlin, New York, S. 1092-1106.

Koller, Werner (1977): Redensarten. Linguistische Aspekte, Vorkommensanalysen, Sprachspiel. Tübingen 1977.

Luckmann, Thomas (1986): Grundformen der gesellschaftlichen Vermittlung des Wissens: Kommunikative Gattungen In: Neidhardt, Friedhelm; Lepsius, M. Rainer; Weiß, Johannes (Hg.): Kultur und Gesellschaft. (Sonderheft 27) der ‚Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie’. Opladen, S. 191-21.

Munske, Horst Haider (1993): Wie entstehen Phraseologismen? In: Klaus J. Mattheier (Hrsg.): Vielfalt des Deutschen. Festschrift für Werner Besch, S. 481-516.

Nowak, Werner / Edmund Schalkowski (1998): Kommentar und Glosse. Konstanz.

Ramge, Hans (1994): Auf der Suche nach der Evaluation in Zeitungskommentaren. In: Moilanen, Markuu / Tiitula, Liisa (Hrsg.): Überredung in der Presse. Texte, Strategien, Analysen. Ber­lin, New York, S. 101–120.

Ramge, Hans / Schuster, Britt-Marie (2001): Kommunikative Funktionen des Zeitungskom­mentars. In: Leonhard, Joachim-Felix u. a. (Hrsg.): Medienwissenschaft. Ein Handbuch zur Ent­wicklung der Medien und Kommunikationsformen. 2. Halbbd. Berlin, New York, S. 1702–1712.

Sabban, Annette (1998): Okkasionelle Variationen sprachlicher Schematismen. Eine Analyse französischer und deutscher Presse- und Werbetexte. Tübingen.

Sandig, Barbara (20062): Textstilistik der deutschen Sprache. Berlin, New York.

Skog-Södersved, Mariann: Phraseologismen in den Printmedien. In: Harald Burger u. a. (Hrsg.): Phraseologie – ein internationals Handbuch zeitgenössischer Forschung (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 28, Bd. 1). Berlin, New York, S. 269-275.

Stephan Stein (2006): Mündlichkeit und Schriftlichkeit aus phraseologischer Perspektive. In: Harald Burger u. a. (Hrsg.): Phraseologie – ein internationals Handbuch zeitgenössischer Forschung (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 28, Bd. 1). Berlin, New York, S. 220-237.

Barbara Wotjak (1992): Verbale Phraseolexeme in System und Text. Tübingen, 99-172.