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„Starkes Bedürfnis nach guten Informationen“

Medienwissenschaftler Prof. Dr. Tobias Matzner über Fake News und Verschwörungstheorien in Zeiten von Corona

In der Corona-Krise haben Falschmeldungen und Verschwörungstheorien Hochkonjunktur und verbreiten sich rasant über das Internet. Facebook kündigte jüngst neue Gegenmaßnahmen an. Warum sind Fake News erfolgreich? Was genau tun die großen Social-Media-Unternehmen dagegen? Und wie können wir uns in der Krise selbst eine ausgewogene Meinung bilden? Einschätzungen von Medienwissenschaftler Prof. Dr. Tobias Matzner.

Herr Matzner, das Internet ist voll von Fake News und Verschwörungstheorien rund um Corona. Wer steckt dahinter und welche Belege gibt es aktuell für staatlich gesteuerte Desinformationskampagnen?

Tobias Matzner: Ein größeres Problem als Kampagnen, die von bestimmten Akteuren ausgehen, ist meines Erachtens die schnelle Verbreitung von falschen Informationen und von Halbwissen. Oft sind das sogar gut gemeinte Ratschläge, die aber einfach nicht stimmen. Wir sehen ja, wie schwer die Wissenschaft sich tut, gesicherte Informationen zu liefern. Das ist aber nun mal eine Eigenschaft guter wissenschaftlicher Arbeit. Verschwörungstheorien, aber auch einfache „Tipps“ oder Ansichten, die jemand überzeugt äußert, haben dagegen oft schnelle und definitive Antworten, die ein Bedürfnis nach Orientierung befriedigen und deshalb vielleicht auch über die Kreise, in denen ansonsten solche Dinge verbreitet werden, hinaus wirksam werden.

Gezielte Falschmeldungen zu Corona werden vor allem über Social Media-Plattformen, Instant-Messenger-Dienste wie WhatsApp und mittels sogenannter Social Bots verbreitet. Was tun Facebook, Twitter, Google und Co. konkret dagegen und welche Rolle spielen dabei Algorithmen?

Matzner: Momentan weisen alle großen Plattformen auf die im jeweiligen Land zuständigen Stellen hin, in Deutschland etwa auf die Informationen des Robert Koch-Instituts oder der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Mit dem Entfernen von Falschinformationen tun sich die Plattformen dagegen schwer. Hier ist zwischen freier Meinungsäußerung und den Gefahren durch Falschinformationen abzuwägen – und das geht aus der US-amerikanischen Perspektive der relevanten Plattformbetreiber meist zugunsten der Meinungsäußerung aus, die dort deutlich umfassender verstanden wird als hier. Es gibt aber Versuche, die Verbreitung von Falschinformationen einzudämmen: So können etwa Nachrichten, die auf WhatsApp schon oft weitergeleitet wurden, in manchen Ländern nur noch begrenzt weiter geteilt werden. Facebook schlägt Menschen, die Falschinformationen geteilt haben, außerdem Nachrichten aus offiziellen Kanälen vor und legt nahe, diese ebenfalls zu teilen.

Algorithmen haben in einer Situation, in der selbst Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nicht immer wissen, was richtig ist, einen begrenzten Nutzen. Sie können aber helfen, bekannte und verbreitete Fehlinformationen zu finden, deren Reichweite einzudämmen oder sie ganz zu entfernen. Zudem sind Algorithmen ein wichtiges diagnostisches Werkzeug, um zu untersuchen, wie und wo sich Inhalte – richtige wie falsche – verteilen.

Wo müssten aus Ihrer Sicht die Social Media-Unternehmen und zuständige staatliche Stellen mehr tun?

Matzner: Ich glaube, am wichtigsten ist es, nicht mehr so sehr zu versuchen, Fake News zu verhindern, sondern eher das Bedürfnis nach Informationen und Orientierung mit guten Informationen zu versorgen. Der vielzitierte Podcast des Virologen Christian Drosten zeigt, wie gut allgemeinverständliche und niveauvolle Informationen aufgenommen werden. Hier sollte aber nicht nur medizinisches oder naturwissenschaftliches Wissen im Vordergrund stehen. Zunehmend stellt uns die Krise vor soziale Anforderungen: Wie gehe ich mit Menschen um, welche die Regeln anders auslegen als ich? Wie kann ich meinem Arbeitgeber gegenüber Zeit, Raum und Ruhe einfordern? Wie kann ich soziale oder religiöse Rituale begehen, ohne mich und andere zu gefährden? Das können aber auch ganz praktische Dinge sein, etwa wie man eine Atemschutzmaske richtig anlegt. Die Debatte um Masken läuft gerade oft so, dass einfach „Masken helfen“ oder „Masken helfen nicht“ postuliert wird. Wenn man sich aber z. B. ein wenig damit befasst hat, worauf es beim Tragen einer Maske ankommt und was da schiefgehen kann, dann kann man viel besser einschätzen, wann und wo eine solche Maßnahme gut eingesetzt werden könnte. Und man fühlt sich dann auch gleich ein bisschen schlauer.

Wer bei Facebook und Co. überprüft, ob es sich bei einer Veröffentlichung um Fake News handelt und nach welchen Richtlinien werden Beiträge gelöscht und Nutzer gesperrt?

Matzner: Facebook finanziert das sogenannte „International Fact-Checking Network“ mit und hat eigene Fact-Checker beauftragt, die von diesem Netzwerk zertifiziert sind. Das Netzwerk ist am Poynter Institut angesiedelt, einer Nonprofit-Organisation in den USA, die sich um journalistische Ausbildung und Werte kümmert. Über den Umfang der kontrollierten Inhalte ist schwer etwas zu sagen.

Google finanziert ebenfalls Fact-Checker und ähnliche Institutionen weltweit, vor allem, um deren Arbeit zu unterstützen. Auf der Suchseite wird eine Infobox mit gesicherten Informationen eingeblendet, wenn jemand nach Corona-Themen sucht. Das vertraut dann auf die Kompetenzen der User, zwischen der Infobox und den eventuellen Falschmeldungen in den Suchergebnissen das Richtige auszuwählen. Twitter hat eine Policy, um Inhalte, die Experten widersprechen oder die falsche Behandlungsmöglichkeiten anpreisen, zu entfernen und priorisiert in der Suche als verlässlich eingestufte Quellen.

Die einzelnen Richtlinien werden dabei immer von den Social-Media-Unternehmen selbst festgelegt – auch wenn viele die Dienste von externen Fact-Checkern nutzen.

Die Corona-Pandemie verlangt uns kognitiv einiges ab: Es gibt täglich eine Masse von Informationen aus aller Welt, hunderte Newsticker und alle möglichen Experteneinschätzungen, ausgespielt auf den unterschiedlichsten Plattformen. Welche Strategien kann ich anwenden, um mir eine einigermaßen ausgewogene Meinung zu bilden?

Matzner: Ganz klar verlässliche Quellen suchen, wie das Robert Koch-Institut, die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, lokale Gesundheitsämter, Universitäten etc. Dort kann man auch nachsehen, wie diese zu Dingen stehen, die man andernorts im Internet gesehen hat. Am wichtigsten ist es aber, nicht zu vergessen, dass wir im Moment vieles noch nicht wissen und einige Fragen auch unter führenden Experten umstritten sind. Eine ausgewogene Meinung heißt also oft zu wissen, was man nicht weiß. Das ist natürlich unbefriedigend, in solchen Fällen kann man dann nur vorbeugend sehr vorsichtig sein.

Fake News und Verschwörungstheorien: Sache einer kleinen, aber lauten Minderheit oder ein soziale Schichten übergreifendes gesamtgesellschaftliches Problem?

Matzner: Es gibt hier unterschiedliche Formen und auch unterschiedliche Themen. Radikale Ansichten, wie zum Beispiel Impfungen abzulehnen, betreffen eine relativ kleine Bevölkerungsschicht. Das sind dann Positionen, die von mehr oder weniger organisierten Netzwerken aktiv gestreut werden. Radikale Ansichten über Migrantinnen und Migranten sind beispielsweise weiter verbreitet. Es hängt also auch vom Thema ab.

Daneben gibt es aber jetzt in der Corona-Krise wie gesagt viel Halbwissen, missverstandene Informationen und Fehleinschätzungen Einzelner, die über digitale Medien sehr schnell verbreitet werden können. Das sehe ich gerade als die besorgniserregendere Form von „falschen“ Meldungen an, weil diese nicht im Gewand des Radikalen auftreten und oft tatsächlich gut gemeint sind.

Falschmeldungen und Desinformationskampagnen via Social Media waren schon lange vor Corona ein Problem und bestimmen beispielsweise seit Jahren Wahlkämpfe mit. Ende des Jahres ist US-Präsidentschaftswahl. Welche Entwicklungen erwarten Sie hier?

Matzner: Die US-Präsidentschaftswahl ist von stark polarisierenden Kampagnen geprägt. Die enorme Bedeutung, die hier wirklich manipulative Nachrichten haben konnten, kann man wohl nicht verstehen, ohne den Raum zu beachten, den auch kleine und extreme Meldungen in etablierten Massenmedien wie dem Fernsehen – Stichwort Fox News – bekommen. Es gibt hier ein Hochschaukeln zwischen den verschiedenen Medien. Dazu lassen sich auch Versuche zählen, Fake News in Zeitungen zu enttarnen – denn dabei werden deren Botschaften ja trotzdem wiederholt.

Für die kommende US-Präsidentschaftswahl bleibt abzuwarten, welche Auswirkungen Corona auf den Wahlkampf und seine Modalitäten haben wird. Das ist momentan kaum abzuschätzen.

Interview: Simon Ratmann, Stabsstelle Presse und Kommunikation

Foto (privat): Tobias Matzner ist seit Anfang 2018 Professor für „Medien, Algorithmen und Gesellschaft“ an der Universität Paderborn und Direktor des Instituts für Medienwissenschaften.

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