Kulturelle Zyklographie der Dinge. Objektzirkulationen und (Selbst)Biographien von Artefakten

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Studentische Dingbiographie-Werkstatt

Im Rahmen des Tandemseminars unter der Leitung von Dr. Mirna Zeman und Prof. Dr. Kerstin Kraft beschäftigten sich die Studierenden der Fächer Komparatistik, Germanistik und Textilwissenschaften im SS 2015 mit literarischen, textilen und alltagskulturellen „Dingbiographien“.        

„Dingbiographien“ - begrifflich wird hiermit von einem „Leben“ der Dinge, das es zu beschreiben gilt, ausgegangen. Im Seminar haben wir anhand unterschiedlichster Quellen erkundet, woher diese Vorstellung kommt und wie sie umgesetzt wird. Was erzählen uns die Dinge? Und wie erzählen sie es uns? Wer gibt den Dingen eine Stimme? 

Die Literaturwissenschaft kennt Texte, in denen Dinge im Modus der Fiktion selbst die Stimme ergreifen und von den „Abenteuern“ und „Qualen“ berichten, die sie während ihrer Lebenszyklen erfahren und erleiden. In der Kulturwissenschaft des Textilen werden u.a. die Objekte selbst untersucht und Spuren gelesen, um ihre Biographie zu rekonstruieren. Neben den literarischen „Selbstbiographien“ von Artefakten (z.B. literarische Texte der Gattung It-Narratives/Novels of Circulation) und materiell-textilen Quellen wurden im Seminar audiovisuelle Formate (u.a. Filme und Musikclips, die „Biographien der Dinge“ zeigen) und Internet-Projekte (Ding-Tracking, Bookcrossing) herangezogen. 

Im theoretischen Teil des Seminars lernten die Studierenden die Grundzüge der kultur- und literaturwissenschaftlichen Dingtheorien, das Konzept der „Zyklographie der Dinge“ und die wichtigsten Methoden der Objektbeobachtung und -beschreibung kennen. 

Im praktischen Teil des Seminars hatten die TeilnehmerInnen die Gelegenheit, eigene Ideen zum Thema „Dingbiographie“ zu entwickeln und kreativ umzusetzen.      

Am 3.7. 2015 wurden die Ergebnisse der „Dingbiographie-Werkstatt“ im Rahmen einer studentischen Mini-Tagung präsentiert.

Den Auftakt bildete die fiktive multimediale Autobiographie eines Haargummis, die von den Komparatistik-Studierenden Annika Freise, Stefanie Hillebrand und Gamze Sezer verfasst und audiovisuell inszeniert wurde. Als Darstellungsform der „Lebensgeschichte“ des Haar-Bändigers wählten die AutorInnen das unverzichtbare Genre der modernen Autobiographik: das Tagebuch. Die fiktiven Tagebucheinträge des Haargummis erzählen von der Herstellung des stimmbegabten Haarutensils im fernen China, folgen seinem Schicksal als Ware in einer Drogerie in Paderborn und berichten schließlich von seinem „Leben“ auf den Handgelenken und in Haarbüscheln dreier Paderborner StudentInnen, in deren Besitz das Haargummi abwechselnd gerät. Der ringförmig-elastische Erzähler-Fokalisator des Uni-Lebens, der studentische Partys, Germanistik-Seminare und eine türkische Hochzeit erlebt, fällt schließlich der „Volkskrankheit“ der Haargummis zum Opfer: Er leiert aus und landet in einer Mülltonne. Doch damit ist die Geschichte noch nicht zu Ende: Als eine Art „Nachruf“ werden die wichtigsten Stationen der Lebensgeschichte des Haargummis in Form einer Fotostrecke rekapituliert. Für das „Weiterleben“ der Lebensgeschichte des Dings wird durch multimediales Archivieren gesorgt: Das Objekt „spricht“ nicht nur im Medium Tagebuch, sondern auch in einer Audio-Datei, die Tagebucheinträge des gesprächigen Dings festhält.

Der rezente Medien-Hype um die Lebensgeschichte eines Opels, die ein junger Mann zusammen mit seinem Gebrauchtwagen bei Ebay versteigerte, verdeutlicht die Faszination, die von Objektgeschichten ausgeht. Doch können die Erzählungen der Steigerung des ökonomischen Wertes der Objekte in der Tat beitragen? Und lässt sich die Tauschwert-Steigerung qua Dinggeschichte auch empirisch, etwa via Ebay, messen? Diese Frage verfolgte im Jahr 2009 das Projekt „Significant-Objects“, das von einem Team um die US-Amerikanischen Journalisten Joshua Glenn und Rob Walker durchgeführt wurde. Im Rahmen dieses Projektes wurden namhafte GegenwartsautorInnen gebeten, Objektgeschichten zu schreiben, die anschließend zusammen mit diversen, auf Flohmärkten und in 1-Dollar-Länden preiswert erworbenen Objekten versteigert wurden. Das Ergebnis: Die mit Geschichten ausgestatteten Objekte erzielten bei Ebay-Auktionen Preise, die im Vergleich zu den ursprünglich für sie ausgegebenen Summen deutlich höher waren.

Angeregt durch „Significant-Object-Experiment“ und Ebay-Objektbiographien wurden im Seminar verschiedene fiktive Anzeigen konzipiert und diskutiert, u.a. eine Anzeige, die mit literarischen Nasen-Texten aus dem 18. Jahrhundert für eine Nasendusche wirbt. Im Rahmen der studentischen Tagung präsentierten Annika Freise, Stefanie Hillebrand und Gamze Sezer ein Ebay-Inserat für ein Objektarrangement, das aus einer Teetasse, einer Teekanne und einem Bierkrug besteht. Dem Ensamble wurde eine Geschichte hinzugefügt: Der Transkript und die Audioaufnahme eines Ding-Dialogs aus der Feder des Schriftstellers Oskar Ludwig Bernhard Wolff, der unter dem Titel „Über allen Zauber Liebe“ 1831 in Leipzig erschien. Die den Pathos der sentimentalen Liebesstücken der Zeit parodierenden Ding-Gespräche handeln von der Liebe zwischen einer Teetasse und einem Bierkrug, die tragisch endet: mit dem Selbstmord des Bierbehälters.

Mithilfe von Verfahren des Objekttheaters, der literarischen Gattung der It-Narratives und der Märchenerzählung näherten sich die Studierenden Annemarie Kögl (Textilwissenschaften), Raphael Köhler (Germanistik) und Laura Trautmann (Textilwissenschaften) einem Kult- und Starobjekt aus dem Reich der Schuhe an: den weltberühmten „Chucks“. Die vom Objekttheater inspirierte performance with a shoe von Annemarie Kögl führte in die Alltagsgeschichte von Chuck Taylor All Stars, einer der erfolgreichsten Schuhmarken der Geschichte ein. Ihre literarische Bearbeitung erfuhr das Thema in einer Erzählung nach dem Vorbild von It-Narratives von Raphael Köhler. Der Autor verleiht einem Exemplar der weltberühmten Schuhgattung die Stimme, um es über sein „Selbst“ im Schatten des Basketballstars Chuck Tylor reflektieren zu lassen. In Köhlers Dinggeschichte werden Basketballgeschichte, die Geschichte eines Schuhtrends und die „persönlichen“ Lebensansichten eines Schuhs kreativ miteinander verflochten. In der anschließenden Präsentation von Laura Trautmann wurde die Objektbiographie mit den so genannten kleinen literarischen Formen und Gattungen in Verbindung gebracht. Trautmann näherte sich dem Thema „Schuhe“ im Gewand eines eigenständig verfassten Märchens und beschäftigte sich im Rahmen Ihrer Präsentation mit Sprichwörtern und Redensarten, die sich auf den Schuh beziehen. „Man kann sich die Schuhe nach etwas ablaufen“ oder „wo [jemanden] der Schuh drückt“ sind nur einige Beispiele für Phraseologismen, die der Schuh der Sprache aufdrückt.

Die Präsentation der Textil-Studierenden Daniela Zitzelsberger, Johanna Mohr und Linda Oetjen widmete sich dem Objekt „Brautkleid“. Dem Überblick über die Geschichte der Brautmoden seit dem 18. Jahrhundert, der die Studierenden mit verschiedenen historischen Typen des Brautkleides vertraut machte, folgte die Arbeit am Objekt. Die SeminarteilnehmerInnen erhielten die Aufgabe, ein Brautkleid nach Kriterien wie „Zustand/Erhaltung“, „Farbe/Technik/Material“, „Maßangaben“, „Datierung“ und „Wertschätzung“ wissenschaftlich zu untersuchen, zu beschreiben und zu katalogisieren. Anschließend wurde das Brautkleid im Kontext von  deutschen und internationalen Hochzeitsgebräuchen thematisiert. Dabei gerieten auch TV-Hochzeitshows und die Promi-Anti-Braut-Mode der Gegenwart in den Blick.

Erzählungen können Opazität der Trajektorien und der Lebenszyklen der Artefakte durchbrechen. Sie können aber – wie der Beitrag von Julia Schäfer zeigte - auch Objekte verrätseln. Die Studierende der Textilwissenschaften überlegte sich für Ihre Präsentation das Format eines Ratespiels und ließ die TeilnehmerInnen aus mehrdeutigen, verfremdenden Beschreibungen und Textmontagen auf Gegenstände schließen, auf die sich ihre verschleiernden Geschichten beziehen. Verfremdende Darstellungen einer Nagelfeile, eines Vibrators und einer Nähnadel forderte von den Zuhörern eine gespannte Aufmerksamkeit und setzte die Reflexion über eine Erzählform in Gang, die zu den „normalen“ Objektbiographien, die auf Informationsvermittlung hinzielen, konträr steht.

Im abschließenden Teil der Tagung stand die Premiere des Kurzfilms von Judith Morck und Lili Förster auf dem Programm. Der Film, den die beiden Studierenden der Textilwissenschaften gekonnt konzipiert, gedreht und geschnitten haben, zeigt die Prozessvita einer Garnrolle, die davon träumt, ein Teil eines Abendkleides zu werden. Anstatt des schillernden Lebens im glamourösen Gewebe stößt der Träumenden jedoch die Gefangenschaft in einer „hoffnungslosen“ Welt zu: In der Welt der unzähligen Operationen und sich wiederholenden Schritte und Schnitte, die die Herstellung von Garn und seine Transformationen in Kleid ausmachen. Nach der Vorführung des Films, der mit Begeisterung   aufgenommen wurde, stand die Autorin Judith Morck im Rahmen des „Publikumsgesprächs“  zum Thema „How to do a movie oder wie dieser Film entstanden ist“ Rede und Antwort. Die Reflexion und Diskussion der einzelnen Phasen der Filmherstellung ermöglichte den Studierenden den Einblick in das „Lebenszyklus“ eines medialen Artefaktes, dessen Anschauen sehr lohnt.