Kulturelle Zyklographie der Dinge. Objektzirkulationen und (Selbst)Biographien von Artefakten

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Tagung "Lebenszyklus und (Selbst)Biographien der Dinge"

Universität Paderborn, 4./5. Dezember 2015

Raum: E5.333

Veranstalter: Ralf Adelmann, Christian Köhler, Kerstin Kraft, Christoph Neubert, Mirna Zeman
Kooperationspartner: Rolf Parr (Universität Duisburg-Essen), Hartmut Winkler (Universität Paderborn)

Programm

Freitag, 4. 12. 2105

10:30-11:00Begrüßung und Einführung
11:00–12:30 Jürgen Link (TU Dortmund):
Diskursive Zyklen: Das Beispiel zyklischer Denormalisierungen und der Diskurskomplex der »Anten« im deutschen Sprachraum
12:30-13:30 Mittagessen
13:30-15:00Hans Günther (Universität Bielefeld):
Von den anarchischen über die funktionalen zu den absurden Dingen. Ding-Konzepte der russischen Avantgarde
15:00-15:30Kaffeepause
15:30-17:00 Peter Braun (Friedrich-Schiller-Universität Jena):
Versuch über die Objektbiographie
17:00-17:15Kaffeepause
17:15-18:45Antje van Elsbergen (Philipps-Universität Marburg):
Das musealisierte Drama einer Maske. Fremdkulturelle Objekte im eigenkulturellen Kontext
20:00

Abendessen

Samstag, 5. 12. 2015

Die Statthalter der ›Lebenskurven‹, die (auto)biographische Narrative und Gattungen erzählen, sind in der Regel menschliche Protagonisten. Diese Norm ist äußerst stabil und ruht u.a. auf der Stütze der Einstellung der vermittelnden (Auto-)Genres auf individualistische Subjektivierung. Aktuell haben jedoch Denkfiguren, Konzepte, Modelle, fiktionale Formen und schließlich auch harttechnologische Verfahren Konjunktur, die dem Mensch die exklusiven Besitzansprüche an eine ›Lebenskurve‹ absprechen, indem sie diese auch der ›toten Materie‹ einräumen, zuschreiben, ›anvisualisieren‹.


Materielle und immaterielle Artefakte − besagt die Theorie − haben eine Trajektorie, eine Bahn, ein Life Cycle. In den Material Culture Studies entfaltet sich das Konzept eines ›Lebenszyklus‹ der Dinge, das es u.a. mittels der Methode der ›Objektbiographie‹ darzustellen gilt, aktuell in einer Reihe wissenschaftlicher Publikationen. Neben Konzepten  der ›Trajektorie‹ bzw. der ›Bahn‹ der Dinge, die etwa im Rahmen der ANT Prominenz haben, gibt es auch wissenschaftliche Modelle, die die Vorstellung einer ›Lebenskurve‹ auf Nicht-Handfestes, auf ›immaterielle‹ Objekte applizieren und auch für diese eine Art Biographie-Tauglichkeit veranschlagen. In der Linguistik und in den Literaturwissenschaften wurden Wort-Lebenszyklus-Theorien formuliert, in den Science and Technologie Studies wird aktuell über ›Biographien‹ und ›Lebenstrajektorien‹ digitaler Objekte – der Dateien, der Standards, der Daten und der Codes – nachgedacht.


Das Interesse für Object-Life-Cycles persistiert nach wie vor auf der Darstellungsebene der Medien und Künste. Eine Vielzahl von audiovisuellen Formen zeigt und erzählt ›Lebenszyklen‹ der Artefakte, darunter Werbeclips, Musikvideos, Spielfilme und Reportagen. In der Literaturgeschichte hat das Erzählen der Werdens- und Vergehensprozesse des Dings eine lange Tradition. Ästhetische Darstellungen der ›Lebenskurven‹ der Dinge reichen von der frühneuzeitlichen Schwank-Literatur über It Narratives, Process Articles und Produktionsromane, Fließbandprosa und literatura fakta bis hin zu den Dinggeschichten in der Gegenwartsprosa. Im Modus der Fiktion ergreifen die Artefakte nicht selten selbst das Wort und erzählen aus der Ich-Perspektive über ihre Trajektorien und Transformationen. Die ›(Auto)Biographien‹ der Artefakte entpuppen sich nicht selten als ›Prozessvitae‹, bzw. als Erzählungen über Vorgänge des In-Form-und-Norm-Bringens, die Dinge gleichwie Menschen heimsuchen. Indem sie gleichsam auf Dinge/Formen und Praxen fokussieren, realisieren die vielfältigen medialen Darstellungs-formen der Object-Life-Cycles auf einer anderen ontologischen Ebene eben den Ansatz, den Literatur-, Kultur- und Medientheorie aktuell fordern: Nämlich Dinge/Objekte/Artefakte als einen operativen Zusammenhang zu denken und in ihrer Eingebundenheit in Prozessen und Praktiken zu analysieren.


Geht man von drei Bestandteilen der Komposita Object-Life-Cycle und Objekt-bio-graphie aus, so haben zweifelsohne die jeweils letzteren Elemente ›Cycle‹ und ›-graphie‹ am wenigsten Beachtung in der bisherigen Forschung gefunden. Der Work-shop der Forschungsgruppe »Kulturelle Zyklographie der Dinge« fragt daher dezidiert nach a) der Komponente des Zyklischen in der Trajektorie der Artefakte und b) den technischen, wissenschaftlichen und ästhetischen Verfahren und Methoden der Modellierung, Visualisierung, Darstellung, Erzählung der ›Lebenszyklen‹ der Dinge.

a) Komponente des Zyklischen

Die im Begriff Object-Life-Cycle schlummernde Metapher überträgt die wachstümlich-organischen Konnotationen des ›Lebens‹ auf Objekte und das Wort schreibt dieses ›Le-ben‹ in algebraischen Zeichen als zyklusförmig aus. Doch wie viel Zyklus steckt in einer Artefakt-Trajektorie tatsächlich? Welche Art Zyklen werden im Zusammenhang mit Objekt-Trajektorien theoretisch-abstrahierend thematisiert; welche lassen sich aus den dingbiographischen Narrativen extrapolieren?


b) Verfahren


Mit dem aus dem Russischen Formalismus stammenden Begriff Verfahren wird hier dezidiert ein Durchgriff auf die Mittel und Formen ‒ das konkrete Wie ‒ der Darstellung, Erzählung, Visualisierung der Trajektorien der Dinge in Wissenschaft, Kunst und Populärkultur gefordert. Der Workshop fragt u.a. nach medienübergreifend typischen Formen und Verfahren der Vergegenwärtigung der ›Lebenszyklen‹ der Artefakte sowie nach dem synchronen Zusammenwirken und den diachronen Wandel dingbiographischer Genres, Formen und Verfahren. Dabei gerät auch die Frage nach den jeweils spe-zifischen Funktionen, Reflexionspotentialen und Effekten der ›Lebensgeschichten‹ der Dinge in den Blick.

Die Tagung ist öffentlich. Um eine Anmeldung per Mail (mzeman@mail.uni-paderborn.de) wird gebeten.

Abstracts

Im ersten Teil wird ein generativer Blick auf zyklische Phänomene geworfen: Wie kommen sie zustande, wie werden sie produziert? Dazu wird ein zyklologisches Drei-Ebenen-Modell skizziert. Der Focus wird dann eingeschränkt auf diskursive Phänomene, und zwar solche im Zusammenhang mit zyklischen Denormalisierungen und (Re-)Normalisierungen am exemplarischen Fall der diskursiven Markierung „anormaler“ Populationen als „Anten“: Simulanten, Querulanten, Intriganten, Spekulanten, Minusvarianten; Exilanten, Emigranten, Assimilanten, Mutanten, Sympathisanten, Asylanten, Migranten u.v.a. Es zeigt sich, dass Ereignisse der Denormalisierung dazu tendieren, Neologismen von Anten zu generieren. Die diskursive Markierung beschränkt sich nicht auf den Neologismus, sondern tendiert zu typischen Proliferationen wie „Antentümern“ (Intrigantentum usw.) sowie kollektivsymbolischen Komplexen wie „Antenfluten“.

In der russischen Avantgarde der 1910er-30er Jahre findet eine intensive Beschäftigung mit dem Ding – in den verschiedensten Bedeutungsschattierungen des Wortes –  statt. Ding (vešč´) wird zu einem Schlüsselwort avantgardistischer Ästhetik. Von einer kontinuierlichen Evolution der Konzepte kann man jedoch nur bedingt sprechen, da ihre unterschiedlichen Ausprägungen in hohem Maß von den wechselnden Kontexten dominiert sind. Ich unterscheide drei Phasen: die erste ist gekennzeichnet durch den „Aufstand der Dinge“ (Majakovskij)  und ihre Anthropomorphisierung, wobei die Parallele zu den befreiten Wörtern und Dingen des italienischen Futurismus ins Auge fällt. Im nachrevolutionären Zweiten Futurismus zeichnet sich eine Tendenz zum Konstruktivismus und zum Produktionismus ab, die mit der Ausrichtung auf die Industrialisierung des Landes zusammenhängt. Dieser Phase sind u. a. die Produktionsästhetik, die literatura fakta, Sergej Tretjakovs „Biographie des Dings“ oder seine operativen Skizzen zuzuordnen, in denen die Dinge quasi-biographische Dimensionen annehmen. Hierin drückt sich ebenso eine Auseinandersetzung mit der Anthropozentrik der traditionellen Kunst und Literatur aus wie eine ausgesprochen funktionale, ja utilitäre Intention. Als Reaktion auf die weitere gesellschaftliche Entwicklung der Sowjetunion unter Stalin entstehen Ende der 1920er/Anfang der 1930er Jahre im Rahmen der spätavantgardistischen Gruppe OBERIU, der u. a. Daniil Charms zuzurechnen ist, Konzeptionen, in denen als Konsequenz einer radikalen Verweigerungsstrategie die Kohärenz einer sinnhaften Dingwelt durch Zufall, Absurdität und letztlich durch das Auslöschen der Dinge ersetzt ist.

Seit Sergej Tretjakov im Jahre 1929, auf der Suche nach einem radikal anderen und vor allem antipsychologischen Erzählen Die Biographie des Dings entworfen hat, taucht diese Idee hin und wieder sowohl im Journalismus als auch in der Literatur auf. Vor allem in jüngerer Zeit finden sich vermehrt Beispiele dafür. Diese werden getragen von einem neuerlichen Interesse der Kulturwissenschaften an der materiellen Kultur, manche sprechen gar von einem material turn. Aber auch der große Erfolg der Bücher von Neil MacGregor, dem zeitgenössischen „Erzähler der materiellen Kultur“ (Lothar Müller in der SZ), zeugt davon – allen voran „Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten“. Aber auch sein jüngstes, gerade erschienenes Buch „Deutschland. Erinnerungen einer Nation“ dürfte zumindest in unserem Land auf großes Interesse stoßen.
Doch welche literarischen Strategien und narrativen Mittel setzen Autoren ein, um den in Objektbiographien intendierten Perspektivwechsel vom Menschen auf die Dinge textuell umzusetzen? Sergej Tretjakov selbst behalf sich in seinem programmatischen Text mit einer Metapher, die ganz im Geist der Zeit aus der industriellen Produktion stammt. Wie auf einem Fließband, schreibt er, gleitet das Ding als Rohprodukt dahin, und die Menschen treten nur insofern ins Blickfeld des Erzählens, als sie an seiner Veredelung in ein nützliches Produkt beteiligt sind.
Ich werde in meinem Beitrag einige ausgewählte aktuelle Beispiele von journalistischen und literarischen Objektbiographien vorstellen und einer narratologisch inspirierten  Analyse unterziehen, um der Frage nachzugehen, wie ein solches Programm erzählerisch – zu den Bedingungen des jeweiligen Feldes – verwirklicht werden kann.

Die Ethnologie befindet sich stets auf der Suche nach Zugängen zu Objekten, die nicht dem eigenen kulturellen Kontext entstammen, die aber gerade am Museum wertvolle Vermittlungsarbeit leisten können, da sie einen anderen als den rein kognitiven Zugang erschließen. Sie fungieren nicht nur als Repräsentanten fremder Kulturen, und wenn doch, würden sie ihre Rolle schlecht spielen, sind sie doch ihrer ursprünglichen Rolle entrissen. Wie ist dieser Balanceakt zwischen dem Bewusstsein, machtvoll auf ein fremdkulturelles Objekt einzuwirken und dem Anspruch eines Umgangs mit ihm frei von Ethnozentrismus am Museum und in der Wissenschaft zu lösen? Am Beispiel einer Initiationsmaske einer Ethnie aus dem Amazonasgebiet werden die Trennungslinien zwischen fremd und eigen, Geistwesen und Gegenstand und Ritual und Inszenierung sichtbar gemacht. Mithilfe ethnopoetischer Annäherung sollen Dimensionen fremdkultureller Gegenstände vorgestellt und ihre Wirksamkeit diskutiert werden.

Jedes Objekt ist zugleich auch ein Medium, denn es vermittelt uns eine Botschaft: die Botschaft unseres Begehrens. Das Ding tritt alleine dadurch aus dem Hintergrund-Rauschen hervor, indem wir es von seiner Umgebung abgrenzen und damit als Entität wahrnehmen. Zum Objekt wird das Ding erst, wenn wir es mit unserem Begehren belegen. Das heißt zugleich: Objekt und Objekt des Begehrens sind synonyme Begriffe. Und deshalb "spricht" das Objekt auch zu uns: von unserem Begehren - selbst wenn wir es nicht hören (wollen). Das Objekt ist also ein Medium, das uns, wie letztlich jedes Medium, reflexiv auf uns selbst verweist. Dies können wir uns vergegenwärtigen, indem wir den Begriff des "Mediums" als Metapher für sich selbst betrachten. Denn so wie es letztlich die eigene Botschaft der (Trance-)Medien ist, zu erfahren, was wir von ihnen begehren (z.B. den Freispruch von Schuld), so ist die eigentliche Botschaft jedes Mediums genau jenes Begehren, das wir auf das Medium gerichtet haben. Es gilt deshalb, die Objekte von ihrem Fetisch-Charakter (als Ware, als Identitätsstütze, als "Vergegenständlichung" von Wirklichkeit) zu befreien, um hören zu können, was sie uns als Medien über uns selbst sagen könnten. Exemplarisch möchte ich dabei auch verschiedene wissenschaftliche und "aufklärerische" Fetischisierungen von Objekten untersuchen und aufzeigen, welche Begehren sich in den einzelnen Disziplinen und Betrachtungsweisen ausdrücken, wie etwa in der Ethnologie das Begehren der Differenz, in der Archäologie das Begehren der Verwurzelung in der Geschichte oder in den Praktiken des Tracking von digitalen Objekten das Begehren nach Kontrolle.    

Der Beitrag diskutiert ästhetische und wissenschaftliche Verfahren zur Artikulation von Objektbiografien des Smartphones jenseits technisch-medialer Aufzeichnungsverfahren durch das Gerät und den User selbst, etwa im Rahmen von Verortungs- und Verdatungspraktiken. Lässt sich einerseits beobachten, dass das Gerät „auch dann kommuniziert“, wenn man „nicht kommuniziert“ (Hagen 2009) und auf diese Weise permanent die raumzeitliche Trajektorie der TrägerInnen festhält, schweigt es sich über andere Aspekte seiner 'Biografie' notorisch aus: Die Bedingungen der Smartphone-Produktion, -Vermarktung, -Distribution und -Entsorgung sind weitgehend opak. Im Mittelpunkt des Beitrags stehen die satirische App „Phone Story“ (Molleindustria, 2011) und die wissenschaftlichen Ansätze der Medienökologie, die, so die These,  unterschiedliche ästhetische bzw. epistemische Verfahren der Sichtbarmachung jener Phasen aus dem Life-Cycle eines Smartphones einsetzen/bereitstellen, die den Horizont des sinnlich Wahrnehmbaren überschreiten.