Geschichte des Wandbildes am Silo

Hermann-Josef Keyenburg

Die "Schule von Paderborn".
Gedanken zu Inhalt, Struktur und kunstpädagogischem Bezug des Silo-Wand­bildes

Beteiligte Maler:
Sabine Bell, Karin Davids, Detlef Gockel, Gerd Hötter, Hermann-Josef Keyenburg, Alexandra Niemann, Frank Pauels, Edmund Plich, Lothar Requarde, Regina Sigges

Die "Schule von Paderborn" ist nicht die "Schule von Athen".

Bei der letzteren handelt es sich um den Titel, den G. P. Bellori im 16. Jahrhundert in seiner Beschreibung der Malereien Raffaels in den Gemächern des Vatikans dem Fresko der Versammlung antiker Philosophen in der Stanza della Segnatura, einem der Privatgemächer Papst Julius’ II gegeben hat.

Mit 25 Jahren war der junge Künstler auf Empfehlung seines 40 Jahre älteren Freun­des und Förderers Bramante vom Papst nach Rom gerufen und mit der Ausmalung der ‚Stanzen’ betraut worden. Es handelt sich um der Studierräume des Papstes.

Die Stanza della Segnatura wurde als erste ausgemalt. Die Malereien an den Wänden beziehen sich auf die vier Fakultäten der Theologie (Disputà), Poesie (Parnaß), Philosophie (Schule von Athen) und der Jurisprudenz (Richterwand).

Die ‚Schule von Athen’ und die ‚Disputà’ stehen sich als Bilder ergänzend gegen­über. Veranschaulicht diese die Wahrheit als göttliche Offenbarung, so fasst jene die weltliche Weisheit im Bilde der Philosophenversammlung zusammen.

Die ‚Schule von Athen’ ist in ein lunettenartiges Bildfeld mit halbkreisförmigem An­schluss hineinkomponiert.

Die Vertreter der weltlichen Weisheit haben sich auf einer breiten Freitreppe versammelt, die vor einer in die Tiefe des Raumes führenden monumentalen Halle liegt.

Platon und Aristoteles stehen im Zentrum der Komposition. Auf sie zielen alle Fluchtlinien der Perspektivkonstruktion, ihre Häupter haben als einzige den freien Himmel hinter sich, der letzte Bogen der Halle dient anscheinend besonders ihnen zum Triumph. Vor und neben ihnen sind Forscher der empirischen Teilwissenschaften, der 7 freien Künste, in Gruppen verteilt, die miteinander reden und diskutieren. Unter ihnen sind Mathematiker, Kosmographen wie links vorn Pythagoras im Kreise seiner Schüler, rechts gegenüber Euklid, der die Züge Bramantes trägt und gerade seine Schüler über ein geometrisches Problem belehrt. Weiterhin ist Ptolemäus mit seiner Erdkugel zu erkennen, Sokrates in Diskussion begriffen und viele andere, auch solche, die namentlich nicht zu identifizieren sind. Plato, dem Raffael die Züge Leonardos gegeben hat, und Aristoteles werden im Gemälde durch ihre exponierte Stellung als diejenigen charakterisiert und gefeiert, die in ihren Werken all die Erkenntnisse der übrigen Weisen zusammengefasst und vertieft haben. Bezeichnenderweise lässt der Künstler den Plato, der mit der Linken den ‚Timaios’ hält, mit der Rechten nach oben weisen. Seine Ideenlehre wird so symbolhaft bezeichnet. Dagegen weist Aris­toteles neben ihm mit der Rechten horizontal nach vorn und damit auf die Gegenwart der realen Welt und das sittliche Verhalten der Menschen, während seine Linke das entsprechende philosophische Werk hält, die ‚Nikomachische Ethtik’. Raffael zieht auf diesem Fresko also die ‚Summa’ weltlicher Weisheit, alle natürliche menschliche Erkenntnis ist in dieser ‚Schule von Athen’ bildhaft verdichtet gegenwärtig. Die Figu­ren auf dem Fresko sind durch edle Gewänder in ihrer Wirkung gesteigert. Ihre Be­wegungen sind rhythmisch so geführt, dass sie als würdige Vertreter weisen Men­schentums in Erscheinung treten, nicht nur als Zeugen einer längst vergangenen Zeit, sondern durchaus als Identifikationsfiguren und Ideale der eigenen Gegenwart Raffaels. Seine Anspielung auf Zeitgenossen und sein Selbstbildnis am rechten Bild­rand belegen dies. Das humanistische Ideal der Renaissance, der Mensch als ‚uomo universale’, wird in diesem Fresko vorgestellt.

Die ‚Schule von Paderborn’ ist ein ca. 320 m2 großes Wandgemälde, das in der Ein­gangszone der Gesamthochschule Paderborn neben dem Hauptparkplatz auf der Wand eines ehemaligen Silogebäudes im Jahr 1982 realisiert worden ist, ein Jahr vor der Feier des 500. Geburtstages von Raffael. Zwölf Studentinnen und Studenten ha­ben unter meiner Leitung und Mitwirkung das Bildkonzept als Gemeinschaftsarbeit erstellt und verwirklicht.

Es handelt sich um eine Hommage an den Künstler Raffael in Form einer parodisti­schen Umgestaltung und Umdeutung seiner ‚Schule von Athen’ aus der Sicht und dem Lebensgefühl von Studenten und Dozenten heutiger Hochschulen.

Raffaels Bild ist ein Spitzenerzeugnis abendländischer Kunst, eines der ganz großen klassischen Werke der Malerei, in unzähligen Reproduktionen auf der ganzen Welt verbreitet. Es gehört zu den Attraktionen, die dem Romtouristen in jedem Falle ge­boten, wenn nicht zu einer Art Pflicht gemacht werden. Solche klassische Meister­werke werden oft, gerade wegen ihrer Bekanntheit, zu Bildungsklischees, die zwar in den ‚Werte’-Katalog gehören und dort einen bestimmten Platz haben, aber man nimmt sie für sich selbst kaum ernst, einen Bezug zum eigenen Lebenskontext stellt man nicht her. Die umgestaltete Beschäftigung mit Raffaels Werk stellt die provozie­rende Frage: Wo gibt es heute ‚Schulen von Athen’? Was stellen die Hochschulen (Universitäten/Gesamthochschulen) von heute dar?

Wie weit lassen sie sich am Anspruch des Renaissance-Bildes (Apotheose der Wis­senschaften!) messen?

Von Raffaels Traum von einer harmonischen Vereinigung aller Disziplinen zu einer universitas scientium unter einer überhöhenden Wölbung, die im Sinne Bramantes den kosmisch-universellen Bezug des Ganzen bezeichnet, bleibt den heutigen Hochschulen nach der Perversion der Wissenschaften aufgrund ihrer Vereinnah­mung durch Wettrüsten und totalen Konsum fast nichts.

Entsprechend skeptisch – aber nicht ohne Humor – ist die Vorlage in der ‚Schule von Paderborn’ umgestaltet worden. Der Malgruppe ging es darum, das hohe humanisti­sche Pathos des Renaissance-Gemäldes auf die Alltagssituation einer Hochschule von heute, z. B. derjenigen von Paderborn, zu beziehen. Statt der hehren griechi­schen Philosophen bevölkert eine Revue zeitgemäßer und unzeitgemäßer Gestalten die Bühne der humanistischen Gelehrsamkeit. Studenten und andere junge Leute sowie charakteristische Vertreter gesellschaftlicher Kreise (auch Professoren) usur­pieren oder parodieren die Posen der Philosophen Raffaels. Die Gruppierung ist bunt wie das Leben: Da gibt es anstelle von Aristoteles demonstrierende Studenten, die auf ihre Art mit einem Transparent in der Hand auf die ‚Ethik’ der Lebenspraxis ver­weisen. Ein Zigarettendreher mit dunkler Brille und verkniffenem Mund ist auch da­bei.

Die ehrwürdige Gestalt des Platon im Zentrum des Freskos ist durch einen jungen Mann ersetzt, der, mit Kopfhörern bestückt, rhythmisch mit den Knien wippt und der Botschaft des Kassettenrecorders lauscht, während der Zeigegestus seiner Hand ironisch auf die zentrale Bedeutung der Medien als Ideenlieferanten von heute hin­zuweisen scheint.

Gleich neben im steht eine Frau mit Lockenwicklern im Haar, die ihre Arme ver­schränkt hält. Vorn links sitzt neben einer tanzenden Figur eine Nonne, die auf einer E-Gitarre aufspielt, eine Gestalt in Mönchskutte hinter ihr zieht an einer Wasserpfeife.

Einige Figuren haben durchaus surreal-gespenstisches Aussehen. Teilweise sind ihre Körperteile durch Gegenstände und Apparate der modernen Zivilisation ersetzt, eine zeichenhafte Andeutung des Entfremdung des ‚uomo universale’ in unserer technisierten Gegenwart. Anspielungen auf die elektronischen Medien gibt es, auf die Weltraumromantik und den American Way of Life (Coca-Dose). Eine professorale Figur steht, antikisch gewandet, pathetisch da, ist aber statt mit einem menschlichen Kopf, mit einem Duschestrahler versehen. Eine Nackte schmiegt sich – durchaus sexy – an einen Kerl im Bademantel, der anstelle des Kopfes eine Schreibmaschine trägt. Auf der gegenüberliegenden Seite sind eine verschraubte (verbohrte) stehende Figur zu erkennen, gleich unterhalb von ihr ein studentisches Familienidyll sowie eine Gruppe aus der alternativen Szene. Fisch- und Uhrenkopf signalisieren, dass es wohl schon 5 nach 12 Uhr ist und damit für vieles zu spät.

Raffaels engelhafte Gestalt links ist zu einem Reklamejüngling mit einer Registrier­kasse als Oberkörper geworden.

Den Abschluss bildet rechts außen ein ‚Aufsteiger’, der aus irgendwelchen unteren Regionen (wahrscheinlich denen des Alltags) über eine reichlich kurze Leiter auch auf das Niveau der Bild- bzw. Bildungsbühne steigen will.

Beinahe wörtlich aus der Bildvorlage wird Heraklit (vorne links von der Mitte) zitiert, dem Raffael die Züge des Michelangelo gegeben hatte. Philosophisch versonnen, hockt er da, einer Clochard-Gestalt nicht unähnlich; distanziert von der bunten Menge, reflektiert er über die pluralistische Gesellschaft und die Philosophenschulen unserer Tage und führt die Vielfalt der Erscheinungen auf den Nenner der fließenden Zeit zurück. Die gesamt Szene wird von zwei Nischenfiguren überragt, deren eine, Apoll als klassischer Akt, auf das humanistische Menschenbild anspielt, während aus Minerva, der Gegenfigur, ein technoides Gespenst ohne Seele geworden ist, das sich auf eine Bombe stützt.

Die Bildbühne selbst macht aus der von dem Architekten Bramante angeregten feier­lichen Basilika der Renaissance eine Art postmoderne Halle mit Glasdach und glä­serner Kuppel nach dem Vorbild merkantiler Galerien des 19. Jahrhunderts.

Die humanistisch-philosophische Disputation ist so zur Schule der Alltäglichkeit ge­worden mit ironisch-skeptischen, aber auch humorvollen Anspielungen auf die Bunt­heit heutigen Lebens und Treibens.

Diese bildnerische Auseinandersetzung mit dem Gemälde Raffaels könnte auf der Wand des Kunstsilos am Campus der Universität Paderborn, bei entsprechender Wahrnehmung durch die Öffentlichkeit, einen besonderen Signalwert entfalten, ge­eignet, die Diskussion über das Beziehungsgeflecht zwischen Kunst, Bildung, Wis­senschaft und gesellschaftlichem Leben mit Bezug auf die aus Raffaels Fresko ab­geleiteten Fragen zu führen. Das Wandbild selbst ist bereits insofern ein Ergebnis solcher Diskussion, als die historische Vorlage in der beschriebenen Weise durch bildnerische Gestaltungsarbeit in die Perspektive der Gegenwart umgesetzt und um­gedeutet wurde.

Hinzu kommt, dass das Bild nicht das Resultat eines individuellen Malaktes wie meist herkömmliche Bilder darstellt, vielmehr das Ergebnis kreativen Tuns in Form koope­rativer Zusammenarbeit ist. Zwar wurde das Kompositionsschema von Raffael über­nommen – insofern war der klassische Vorwurf als Vergleichsfolie stets gegenwärtig -, aber jeder Beteiligte konnte sich nach freier Wahl und Absprache mit den übrigen um eine oder mehrere Figuren bemühen und sie in den seinerseits verändert nach­konstruierten architektonischen Rahmen einfügen.

Entsprechend bildeten sich Arbeitsgruppen, Figurenstudien wurden angefertigt, dis­kutiert, verändert, ergänzt und schließlich wie bei der überlieferten Freskotechnik so in einen großen Arbeitskarton eingefügt, dass sich die Individualitäten der Beteiligten mit ihren zuweilen doch recht unterschiedlichen Vorstellungen und stilistischen Ei­genarten rhythmisch über die Gesamtkonzeption verteilten. Ziel war es, keine allzu großen stilistischen Sprünge in Erscheinung treten zu lassen.

Das beschriebene Wandmalprojekt – und darin liegt ein wichtiger fachdidaktischer Aspekt – bot auf diese Weise die Gelegenheit zu einer gemeinschaftlichen künstleri­schen Aktion, die die Lust des einzelnen zu individueller kreativer Leistung nicht un­terdrückte. Vielmehr wurde sie im Kontext der Zusammenarbeit als individueller Bei­trag zum Dialog aller Beteiligten gefordert. Jeder einzelne hatte Gelegenheit, sich selbst malend in den Kontext des Bildes einzubringen.

Solch kooperative künstlerische Arbeit dürfte überall dort besondere Chancen und Möglichkeiten der Entfaltung haben, wo – zwar ähnlich wie in der italienischen Re­naissance, wenn auch auf anderer Ebene – heutzutage in der Öffentlichkeit Kunst z. B. als Monumentalmalerei gefragt ist und mehr erwartet als der private gestalterische Ausdruck eines einzelnen.

Eine Möglichkeit, praktische Folgerungen aus dem Malprojekt zu ziehen, wird in ei­nem Brief angedeutet, den Herr Ministerialrat Prof. Dr. Hallauer aus dem Ministerium für Landes- und Stadtentwicklung NW schrieb, nachdem er das Wandbild besichtigt hatte:

"Ich habe auch meinen Minister auf die Möglichkeit hingewiesen, in Sanierungsge­bieten mit Hilfe solcher künstlerischer Eingriffe manches gutzumachen, was unser Stadtbild gerade in den sanierungsbedürftigen Bereichen mitunter so entsetzlich stört, wozu aber keine Mittel mehr bereitstehen, eine Ersatzlösung zu schaffen. Ich hoffe, dass gerade die Städtebauabteilung unseres Ministeriums, die die Mittel für Sanierung und Stadtgestaltung zur Verfügung stellt, von der Idee angetan ist und auch solche Möglichkeiten zur ‚Sanierung’ sieht und fördert. Sie sollten aber durch­aus noch etwas mehr ‚Propaganda’ für das gelungene Werk machen. Ich möchte Ihnen gern dabei helfen."