Am 8. März ist Internationaler Frauentag. 1911 ins Leben gerufen, gibt es eine Reihe von Entwicklungen, auf die seitdem insbesondere die Geschlechterforschung blickt. Einiges wurde erreicht, an anderen Stellen gibt es Nachholdarf. Aktuell – zum Beispiel in den USA – zeichnen sich Entwicklungen ab, die Gleichstellungsbemühungen konterkarieren und bereits Erreichtes rückgängig machen.
Prof. Dr. Antje Langer und Dr. Susanne Richter, die zusammen das Forschungsprojekt „GeFoWiss – Geschlecht als Analysekategorie in universitären Forschungs- und Wissenszusammenhängen“ an der Universität Paderborn leiten, nehmen im Interview Bezug auf aktuelle Entwicklungen und sprechen über die Fortschritte in der Geschlechterforschung.
2018 haben Sie, Frau Langer, in einem Interview zum Thema „100 Jahre Frauenwahlrecht“ darüber gesprochen, dass ein zunehmendes Bewusstsein für Geschlechterfragen im öffentlichen Diskurs entstehen würde. Sehen Sie sich heute, sieben Jahre später, in dieser Einschätzung bestätigt und glauben Sie, dass seitdem ein gesellschaftlicher Fortschritt oder sogar Wandel stattgefunden hat?
Langer: Ich würde das heute noch genauso formulieren. Gesellschaftliche Geschlechterverhältnisse sind in den letzte sieben Jahren auch durch ihre Thematisierung in der der Coronapandemie stärker in die öffentliche Wahrnehmung gelangt. Dabei wurde u. a. diskutiert, wer ‚systemrelevant‘ sei, wie Sorgearbeit verteilt wird und das Thema häusliche Gewalt rückte mehr ins Licht als zuvor. Dazu trug auch #MeToo bei, hier mit Fokus auf sexualisierter Gewalt in verschiedenen gesellschaftlichen Feldern. Es gab rechtliche Veränderungen: die Einführung der Kategorie ‚divers‘ für intergeschlechtliche Menschen im Personenstandsgesetz 2018. Und 2024 trat das Selbstbestimmungsgesetz in Kraft. Damit sind auch institutionelle Veränderungen in Gang gekommen. Und nicht zuletzt über Social Media werden Geschlechterthemen auf vielfache Weise in öffentliches Bewusstsein gerückt.
In Umfang und Vehemenz haben die öffentlichen bzw. medialen Kontroversen ‚rund um Geschlecht‘ zugenommen. Insofern hat sich die Situation, die schon vor mehr als zehn Jahren in der Geschlechterforschung als eine gegenläufiger Tendenzen charakterisiert wurde, zugespitzt: Wir sehen also einerseits mehr Geschlechtergerechtigkeit, zumindest in bestimmten gesellschaftlichen Bereichen, und eine Normalisierung von Vielfalt. Andererseits sehen wir auch eine Verfestigung von Ungleichheitsverhältnissen verbunden mit Retraditionalisierungen und gar das Absprechen jeglicher Existenzen oder von Notwendigkeiten, Geschlechterverhältnisse überhaupt in den Blick zu nehmen. Insofern lässt sich auch von einem Wandel in den letzten sieben Jahren sprechen: Die Widersprüche und die Geschlechteranforderungen – mit denen es alle zu tun haben – sind komplexer und unvermeidlicher geworden. Es ist also eine paradoxe Befundlage – und der Geschlechterforschung gehen die Themen nicht aus.
Viele der aktuellen politischen Dynamiken und Ereignisse hängen aus einer Geschlechterperspektive betrachtet zusammen: Das Erstarken von autoritären oder reaktionären Akteur*innen und Kräften steht in engem Zusammenhang mit progressiven Erfolgen und Entwicklungen. So bedrohlich und geradezu zerstörerisch dies auch gegenwärtig ist: Dass damit auch die Auseinandersetzungen um Geschlechter, Klassen und andere gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse immer breiter gesellschaftlich geführt werden und diese Machtverhältnisse immer weniger ungesehen operieren können, deutet aus geschlechtertheoretischer Perspektive eine wichtige Veränderung an.
Das klingt erstmal nach einer relativ guten Bilanz. Gleichzeitig sind Universitäten und Forschungsprojekte in den USA, besonders mit Fokus auf sogenannte DEI-Programme (diversity, equity and inclusion), durch massive finanzielle Eingriffe akut in Gefahr. Haben solche Entwicklungen auch Einfluss auf die Forschung von Ihnen beiden hier in Deutschland?
Richter: Das, was in den USA gerade geschieht ist, ist bislang beispiellos und wir beobachten es mit großer Sorge. Wir sehen darin aber auch eine Kontinuität von Dynamiken, die uns auch hier in Deutschland schon lange beschäftigen und gerade ebenfalls zuzunehmen scheinen: Auch bei uns sind die Geistes- und Sozialwissenschaften im Allgemeinen und Gender Studies im Besonderen schon lange Gegenstand von Abwertung und sogar direkten Angriffen. Anfeindungen und Degradierungen der Geschlechterforschung ebenso wie prekäre Finanzierungen und Forschungsinfrastrukturen sind kein neues Problem, wie auch in einem aktuellen Papier des Wissenschaftsrates deutlich wird. Die gegenwärtigen Einschnitte tragen zur Legitimierung dieser Infragestellungen und Einschränkungen bei. Dabei geht es allerdings nicht nur um Geschlechteraspekte oder Diversität in der Forschung, sondern wir haben es mit einer grundsätzlichen Infragestellung von Wissenschaft zu tun, die uns alle etwas angeht.
Langer: Zugleich zeigen die aktuellen Entwicklungen, wie bedeutsam diese Wissenschaften sind. Das Wissen und die Fähigkeit kritischer Analyse aus diesen Feldern sind für beständige Demokratien, für immer komplexer werdende Gesellschaften und für die Probleme und Krisen, vor die wir aktuell gesellt sind, dringend notwendig. Wie bedeutsam dabei gerade das Wissen ist, das die Geschlechterforschung hervorbringt, zeigt sich darin, wie sie oft als erstes und am intensivsten von autoritären Akteur*innen angegriffen wird.
Zuletzt sehen wir hier aber auch einen potenziell positiven Aspekt. Dass in den USA und in anderer Intensität auch hier die Angriffe auf die Wissenschaft, auf demokratische Institutionen generell (und jüngst sogar auch auf die Zivilgesellschaft) neuerdings so breit ausfallen und in den USA ja auch viele andere Forschende betreffen, erzeugt viel Widerstand und breite, hoffentlich stabile Bündnisse.
Seit 2024 leiten Sie gemeinsam das Projekt „GeFoWiss – Geschlecht als Analysekategorie in universitären Forschungs- und Wissenszusammenhängen“, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert wird. Ziel des Projektes ist es u. a., über Forschungsgebiete hinweg für Geschlechteraspekte zu sensibilisieren und die Geschlechterdimensionen innerhalb der Forschung sichtbarer zu machen. Wieso genau sind diese Aspekte von so großer Relevanz und welches Potenzial sehen Sie beide darin?
Richter: Geschlechteraspekte sind für viele Forschungsbereiche von Bedeutung. Besonders eindrucksvoll zeigt sich das etwa in der Medizin, in der lange gar nicht klar war, wie gravierend die Folgen davon sind, dass die Forschung lange fast ausschließlich auf männliche Körper fokussiert war. So wissen wir viel weniger über weibliche Körper und darüber, wie viele Krankheiten Frauen anders betreffen können als Männer. Mittlerweile ist immerhin bekannt, dass dies ein verehrender Missstand ist: Frauen werden mit viel weniger Erfolg diagnostiziert und therapiert und haben in vielen Fällen sogar ein deutlich höheres Risiko, an Erkrankungen zu versterben. Andere Krankheiten wiederum betreffen zum Großteil Männer. Auch sind beispielsweise Autounfälle für Frauen statistisch gesehen viel gefährlicher als für Männer: Sie haben ein doppelt so hohes Risiko, bei Unfällen stark verletzt zu werden. Das liegt daran, dass die Sicherheit von Autos lange mit ausschließlich an männlichen Körpern orientierten Puppen getestet wurde.
Dass diese Beispiele so drastisch sind, verdeutlicht gut, worum es bei ‚GeFoWiss‘ geht: Es ist in allen Forschungsprojekten zumindest potenziell wichtig, Geschlecht und soziale Kategorien zu berücksichtigen. Nur dann kann sichergestellt werden, dass wir in der Forschung Wissen und neue Technologien hervorbringen, von denen alle Mitglieder der Gesellschaft gleicherweise profitieren können.
Langer: Es gibt aber auch positive Beispiele. So waren Forschende der Universität Paderborn daran beteiligt, Systeme zur unterbrechungsfreien Stromversorgung in ländlichen Regionen Afrikas zu entwickeln. Dass neben technischen Entwicklungen ganz entscheidend ist, wie diese in den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen kontextualisiert sind, um ‚wirksam‘ zu werden, zeigt die im Forschungskontext durchgeführte Studie von Henry Asiimwe. Gerade im Rahmen von Nachhaltigkeitsentwicklungen spielt die Geschlechterdimension eine große und bisher noch viel zu sehr unterbelichtete Rolle. Solange diese ausgeblendet wird – hier z. B. wer Zugang zu elektrischem Strom, also Licht oder einen Kühlschrank erhält und welche Konflikte daraus resultieren – werden viele gesellschaftliche Bereiche überhaupt nicht erfasst und entwickelte Strategien und Technologien entfalten oft nur bedingt ihr Potential.
Diese Beispiele zeigen die Notwendigkeit, Geschlechteraspekte in Forschungen in ganz unterschiedlichen Bereichen aufzugreifen. Bei manchen Themen liegt das nahe, bei anderen eben nicht – auch weil die Perspektive darauf vielleicht bisher noch nie eingenommen wurde. Innovative Forschung braucht auch diese Brille, noch dazu, wenn sie international bzw. global ausgerichtet sein will. Darauf macht auch der Wissenschaftsrat in seinen Empfehlungen von 2023 aufmerksam, die bereits interdisziplinären Gender Studies breiter aufzustellen und stärker mit anderen Disziplinen, insbesondere den MINT-Fächern oder auch den Wirtschaftswissenschaften zu verschränken. Die Fachstelle ‚GeFoWiss‘ ist genau dafür da, im Dialog – und das ist uns wichtig – auszuloten, wo vielleicht Geschlechteraspekte eine Rolle spielen könnten oder eben auch nicht.